Anton Bruckners 200. Geburtstag im kommenden September wirft diskografisch bereits ein Jahr zuvor weite Schatten. Die Wiener Philharmoniker, qua ihrer Geschichte ohnehin eng mit der Musik des Linzers verbunden, haben unter der Leitung von Christian Thielemann zwischen 2019 und 2022 erstmals alle elf Sinfonien aufgenommen, darunter als Repertoirepremieren die „Annullierte“ und die Studiensinfonie f-Moll. Klingt die letztgenannte noch nach Mendelssohn und Schumann, steckt die vom Komponisten zurückgezogene, die zeitlich zwischen der Ersten und Zweiten einzuordnen ist, voller motivischer und harmonischer Experimente und wartet mit ungeahnter Virtuosität auf – eine begrüßenswerte Erweiterung des tradierten Neunerkanons.
Diesen gestaltet Thielemann mit der ihm eigenen Liebe für die übergeordnete Architektur der jeweiligen Sinfonie und die großen Linien innerhalb eines Satzes. Mit chirurgischer Präzision lotet er den Klang des Orchesters aus, dessen Streicher oft silbrig glänzen und dessen warm-satte Bläser dunkle Kontraste setzen. Die inhärente Dramatik der Musik wird an vielen Stellen intensiv ausgekostet. Insbesondere in den langsamen Passagen scheut Thielemann nicht vor Pathos, der bisweilen eine Spur zu erhaben gerät. Obgleich des überwiegend getragenen Ansatzes verharrt der Zyklus insgesamt nicht in Statik. Bruckners dichter Kontrapunkt bleibt transparent, auch die bis in die Finaltakte genauestens differenzierte Dynamik überzeugt. Mit elf umfangreichen Essays enthält das Booklet der CD-Box ergänzende Lektüre für den historisch interessierten Bruckner-Hörer.
Bruckner: Sämtliche Sinfonien
Wiener Philharmoniker, Christian Thielemann (Leitung)
Sony Classical