Tschaikowsky: Sinfonie Nr. 4 f-Moll op. 36

Mit seiner vierten Sinfonie komponierte Tschaikowsky wohl sein persönlichstes Werk, das er eng mit seiner Lebensrealität verknüpfte.

© gemeinfrei

Peter Iljitsch Tschaikowsky, Gemälde von Nikolai Kuznetsov

Peter Iljitsch Tschaikowsky, Gemälde von Nikolai Kuznetsov

Noch während Peter Tschaikowsky in den Sommermonaten 1877 an seiner 4. Sinfonie arbeitete, legte er sich bereits auf Nadeschda von Meck als Widmungsträgerin des Werks fest. Die Unternehmerwitwe tat sich als äußerst kunstsinnige und fachkundige Mäzenin hervor, wobei sie den russischen Komponisten am meisten begünstigte.

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Tschaikowskys Gönnerin Nadeschda von Meck
Tschaikowskys Gönnerin Nadeschda von Meck

Dabei stand Tschaikowsky mitnichten im Sinn, von Mecks finanzielle Gunst mit dieser Widmung zu fördern oder zumindest zu pflegen. Jahrelang führten die beiden eine leidenschaftliche wie innige und intime Brieffreundschaft, ohne dass die beiden jemals miteinander von Angesicht zu Angesicht sprachen. „Ehe ich meinen Wunsch äußere, möchte ich eine Frage an Sie richten“, heißt es in ihrer Antwort, nachdem sie von der Widmung erfahren hatte: „Halten Sie mich für Ihren Freund? Falls Sie diese Frage mit einem Ja beantworten können, so würde ich mich sehr freuen, wenn die Widmung der Sinfonie ohne Namensnennung einfach lauten könnte: „Meinem Freunde gewidmet.““

Das Kreuz mit der Liebe

In der Tat wäre vielleicht ohne die damals noch sehr junge Freundschaft der beiden die vierte Sinfonie, die neben den Nummern fünf und sechs zu den bedeutendsten Werken Tschaikowskys zählt, erst gar nicht entstanden, denn der Komponist hatte mit seelischer Not zu kämpfen: Da gab es einerseits die unerfüllte, weil verbotene Liebe mit dem Geiger Josef Kotek. Andererseits hatte der Komponist mit einer falschen oder zumindest merkwürdigen Liebe zu kämpfen: Eine ehemalige Kommilitonin, die Tschaikowsky völlig unbekannt war, stellte diesem nach und drängte ihn zur Heirat. Warum der Komponist sie ehelichte, ist bis heute nicht geklärt, wobei unter Musikwissenschaftlern die weitläufige Annahme vorherrscht, dass er seine Homosexualität damit zu kaschieren hoffte.

So ist die Komposition – von Weitem betrachtet eine klassische Sinfonie, von Nahem betrachtet jedoch ein Seelendrama und Bekenntniswerk, wie Mathias Husmann es in seinen „Präludien fürs Publikum“ beschreibt – eine sehr persönliche, eng mit Tschaikowskys Lebensrealität verbundene Sinfonie. Die Widmung kommt also nicht von ungefähr. Der Komponist kam übrigens dem Wunsch seiner Förderin nicht ganz nach und notierte in seine Partitur „a mon meilleur ami“ – „meinem besten Freunde gewidmet“.

Die wichtigsten Fakten zu Peter Tschaikowskys Sinfonie Nr. 4 f-Moll op. 36

Satzbezeichnungen

1. Satz: Andante sostenuto – Moderato con anima – Moderato assai, quasi Andante – Allegro vivo
2. Satz: Andantino in modo di canzona
3. Satz: Scherzo: Pizzicato ostinato – Allegro
4. Satz: Finale: Allegro con fuoco

Orchesterbesetzung: Piccoloflöte, 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauke, Triangel, Becken, Große Trommel und Streichinstrumente

Spieldauer: ca. 42 Minuten

Die Uraufführung am 10. Februar 1878 dirigierte Nikolai Rubinstein

Referenzeinspielung

Tschaikowsky: Sinfonie Nr. 4 f-Moll op. 36

Leningrader Philharmoniker
Jewgeni Mrawinski (Leitung)
Deutsche Grammophon

Fast ein halbes Jahrhundert lang stand Jewgeni Mrawinski am Pult der Leningrader Philharmoniker (heute: Sankt Petersburger Philharmoniker), seinerzeit eines der bedeutendsten Orchester weltweit. Gerade die Tschaikowsky-Einspielungen bildeten während des Kalten Kriegs ein erfrischendes, werkgetreues Gegengewicht zu den mit romantischem Bombast überfrachteten Interpretationen des Westens – was sicherlich auch an der kulturellen wie intellektuellen Nähe zum Komponisten lag, der ebenfalls in Sankt Petersburg lebte und wirkte.

(UA Moskau 1878)


Von Weitem wirkt die Sinfonie klassisch: vier Sätze, der erste lang, mit einer getragenen Einleitung vor dem lebhaften, sonatenförmigen Hauptteil, die weiteren Sätze kürzer und übersichtlich. Canzona und Scherzo dreiteilig (ABA), das Finale rondoartig – ein richtiger Rausschmeißer.


Von Nahem allerdings erweist sich die Vierte als Seelendrama – das erste in der Folge der drei letzten großen Sinfonien von Tschaikowsky. Dabei steht die klassische Form dem musikalischen Bekenntnischarakter im Wege – wie gesellschaftliche Normen der Selbstverwirklichung des Einzelnen im Wege stehen. Erst in seiner sechsten und letzten Sinfonie Pathetique verwarf Tschaikowsky die klassischen Normen und erreichte Kongruenz zwischen seinem persönlichen Ausdrucksbedürfnis und der musikalischen Form.


Die Einleitung ist ein Fatum: Hörner blasen zur Jagd – auf einen Menschen. In greller harmonischer Beleuchtung wiederholen die Trompeten den Schicksalsspruch, zwei erbarmungslose Tuttischläge, dann verblasst der Albtraum – zurück bleibt ein verstörter Außenseiter … das Fatum droht über allen Portalen des Sonatensatzes: zu Beginn der Durchführung, vor der Reprise, in der Coda. Trotzdem: Das wiegende Seitenthema – von der Klarinette angestimmt – ist unvergesslich: berückende Illusion eines erträumten Glückes …


Nach dem Drama des ersten Satzes ist die Ruhe der Canzona wohltuend. Eine melancholische Melodie wandert durch das Orchester in gleichmäßiger, sanft phrasierter Bewegung …


Das Scherzo ist eine Groteske: Bizarr springen die Pizzicati zwischen den Streichergruppen hin und her; fast parodistisch wirken die Bläsereinwürfe in ihrem aufgeregten Marschgehabe …


Finale – endlich wacht das Schlagzeug auf! Ein wildes Volksfest – wie es das Ego erlebt: erst begeistert, dann depressiv und panisch. Das Ego versucht zu fliehen, aber das Fatum vertritt ihm den Weg: Zurück auf Anfang!


Nach einer langen Fermate führt ein sehr allmählich, aber unaufhörlich wachsender Paukenwirbel zum taumelnden, schweißtreibenden, opernhaft applausträchtigen Schluss – ist da jemand unter die Räder geraten?


(Mathias Husmann)