Rachmaninows letztes Werk, die „Sinfonischen Tänze“, ursprünglich „Fantastische Tänze“, sind keine Ballettsuite, wie der Titel vielleicht suggeriert, sondern ein hauptsächlich sinfonisches Werk, auch wenn das tänzerische Element eine wichtige Rolle spielt. Eine verkappte Sinfonie ist das Ganze aber auch nicht, weil weder der erste noch der dritte Satz in der Sonatenform stehen. Doch der wenig treffende Titel gehört noch zu den harmloseren Merkwürdigkeiten.
Im ersten Satz verwendet Rachmaninow für den lyrischen Mittelteils eine ungewöhnliche Instrumentierung. Für eine der wenigen Stellen, die überhaupt an seinen sonst gern schwelgerischen Stil erinnernt, wählt er zunächst ausgerechnet ein solistisches Saxofon. Dieses Instrument ist zwar 1940 längst nicht mehr „neumodisch“, aber im Sinfonieorchester immer noch eine seltene Erscheinung. Übernommen wird das Thema dann in einer auffälligen Klangmischung von Bläsern, einstimmig geführten Streichern und einem Klavier.
Am Ende des Satzes zitiert Rachmaninow er einen kurzen Abschnitt seiner erster Sinfonie, deren Uraufführung 1897 zum Fiasko wird und ihn in eine schwere Krise stürzt. Doch warum hellt er dieses Motiv nach einer geradezu „gen Himmel“ führenden Skala nach Dur auf? Und wer soll den Bezug zur ersten Sinfonie überhaupt erkennen, da diese 1940 noch nicht im Druck erschienen ist?
Im zweiten Satz wird die Walzerseligkeit immer wieder von Einwürfen unterbrochen, deren Instrumentierung häufig einen grotesken, bisweilen dämonischen Charakter annimmt.
Im dritten Satz beruht das thematische Material fast komplett aus der Gregorianischen „Dies-irae“-Melodie. Eine Art Totentanz? Die Röhrenglocken sind vermutlich direkt aus Hector Berlioz „Symphonie fantastique“ übernommen, vielleicht auch das Sujet.
Kurz vor Schluss gibt es ein weiteres Zitat, diesmal ein Halleluja aus einem der großen geistlichen Werke Rachmaninows, der „Ganznächtlichen Vesper“ (1915). Dieses Halleluja kennzeichnet er in der Partitur ausdrücklich. Das „Dies irae“ taucht in den folgenden knapp 30 Takten nicht mehr auf. Ein Sieg des Glaubens, gar ein persönliches Bekenntnis Rachmaninows? Vielleicht. Ein Aspekt stört jedoch diese naheliegende Deutung: der Einsatz des Gongs. Das Schlagzeug ist viel beschäftigt in diesen „Tänzen“, bis hin zu einer Art „Todesmarsch“ der kleinen Trommel kurz vor jenem Halleluja-Zitat. Der Gong aber kommt erst nach dem Halleluja insgesamt sechsmal zum Einsatz, davon auch im Schlussakkord, in dem er als einziges Instrument nachklingt – eine Anweisung, die nicht immer berücksichtigt wird. Das kann schlicht als raffinierte Klangfarbe gedacht sein, aber auch ganz bewusst als Todessymbol, in Anlehnung an eine Tradition, die sich in der Spätromantik gebildet hat. Ist dieser Schluss also gerade kein Bekenntnis zum Glauben, sondern wird das Halleluja verdrängt von der Gewissheit, dass es vorm Tod letztlich kein Entrinnen gibt? Sieht Rachmaninow gar sein eigenes Ende nahen? Da helfen auch die ursprünglich vorgesehenen Überschriften für die Sätze „Mittag“, „Zwielicht“ und „Mitternacht“ nicht weiter, denn spätestens hier verlieren sich mögliche Deutungen in Spekulationen.
(Nicolas Furchert)