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Blickwinkel: Simone Menezes über das Konzertprojekt „Amazônia“

„Wir können den Zustand des Regenwaldes nicht ignorieren“

Dirigentin Simone Menezes macht mit einer besonderen Verbindung aus Musik und Fotografie auf die Gefährdung des Amazonas-Regenwaldes aufmerksam – und zeigt die Schönheit der weltweit einzigartigen Natur.

vonJan-Hendrik Maier,

Das Konzertprojekt „Amazônia“ verbindet Musik des brasilianischen Nationalkomponisten Heitor Villa-Lobos mit einfühlsamen Fotografien von Sebastião Salgado aus Amazonien, dem größten tropischen Regenwaldgebiet der Erde. Dirigentin Simone Menezes, die das Projekt musikalisch konzipiert hat, führt es nun mit dem Gürzenich-Orchester Köln auf.

Sie haben „Amazônia“ erstmals 2019 in Paris dirigiert. Wie ist das Projekt eigentlich entstanden?

Simone Menezes: Ich wollte schon als junger Mensch Villa-Lobos’ Musik mit Fotografien von Sebastião Salgado in Einklang bringen. Als er dann kurz vor der Pandemie seine erste Ausstellung mit Aufnahmen, die er über sieben Jahre hinweg in Amazonien gemacht hat, eröffnete, fragte mich die Pariser Philharmonie, ob wir nicht ein Projekt entwickeln könnten, das beides zusammenführt. Da erfuhr ich, dass Salgado selbst ein großer Bewunderer Villa-Lobos’ war. So ging es mit „Amazônia“ los, und für mich verwirklichte sich ein Traum.

Im musikalischen Zentrum steht eine Suite aus Villa-Lobos’ „Floresta do Amazonas“. Was macht dieses Werk so einzigartig?

Menezes: Es wurde ursprünglich für einen Film komponiert, aber nie dafür verwendet. Als die Produzenten an Villa-Lobos herantraten, sagte er, er sei zu alt, um zu schreiben, was andere von ihm wollten, er möchte lieber seine eigene Vorstellung umsetzen. So wurden auf der Leinwand nur einige Melodien übernommen, die er wiederum orchestriert hat. „Florestas do Amazonas“ ist eigentlich also eine komplexe sinfonische Dichtung von 70 Minuten Länge mit vielen bildhaften Elementen. Villa-Lobos liebte es, zu experimentieren. Manches erinnert an Ravel und Schostakowitsch, die komplexen Rhythmen sind ganz im Sinne von Strawinsky, zugleich gibt es Episches wie in „Carmina Burana“. Leider neigen wir dazu, in Klischees zu denken und Villa-Lobos’ Musik per se als heiter abzustempeln. Das stimmt nicht. Sie ist tief in der portugiesischen Tradition verwurzelt. Das bringt eine besondere Sehnsucht mit sich, die an die Melancholie des Fado erinnert.

Welche Themen zeigen die Fotografien?

Menezes: Wir wollen eine Geschichte erzählen, die nach und nach neue Facetten des Regenwaldes aufdeckt. Der erste Satz handelt vom Amazonas selbst und wird von Luftaufnahmen begleitet. Im zweiten Satz dringen wir tiefer in den Regenwald vor, die Bilder geben uns das Gefühl, als würden wir gerade dort ankommen. Der dritte Satz widmet sich den Vögeln dort. Salgado erzählte, wie schwierig es war, sie angesichts der enormen Dichte des Regenwaldes hoch oben in den Bäumen zu fotografieren. Also haben wir uns entschieden, stattdessen Bilder indigener Frauen zu zeigen.

Welche Synergien entstehen aus der Kombination von Musik und Fotografie?

Menezes: Wir wissen, dass manche Menschen mehr von dem berührt werden, was sie sehen, andere wiederum von dem, was sie hören. In „Amazônia“ kommen beide Sinne zusammen. Villa-Lobos und Salgado waren beide absolute Meister ihres Fachs, sodass hier etwas Überwältigendes entsteht. Wenn man an einer Stelle die Augen einer indigenen Person sieht und die Musik dazu hört, spürt man sofort eine Verbindung.

Unvergleichliches Juwel in Amazonien: der Anavilhanas-Naturpark
Unvergleichliches Juwel in Amazonien: der Anavilhanas-Naturpark

Was verbinden Sie persönlich mit dem Amazonas?

Menezes: Wenn wir über die Umwelt sprechen oder in der Musik über die Natur nachdenken, sehen wir oft nur ihre Verletzlichkeit. Ja, sie ist verletzlich, aber zugleich so viel größer als wir. Wir können sie nicht bändigen. Der Amazonas ist ein Ort, an dem man ohne Vorbereitung nicht überleben kann. In Brasilien gibt es die Erzählung vom Bau einer Eisenbahnlinie durch den Amazonas. Kaum hatten die Arbeiter einen Abschnitt fertiggestellt, hatte ihn der Regenwald schon wieder verschlungen. Das zeigt, wie gewaltig diese Natur ist und wie viel Respekt sie von uns verlangt.

Glauben Sie, dass Projekte wie „Amazônia“ zu einem Umdenken im Publikum hin zu einem geschärften Bewusstsein für die Zerbrechlichkeit unserer Natur beitragen können?

Menezes: Die Kunst hat die Kraft, direkt unser Unterbewusstsein anzusprechen. In „Amazônia“ wird uns immer wieder bewusst, dass die Menschen, die wir auf den Bildern sehen, ganz anders leben als wir. Die Natur selbst ist für sie der Versorger. Das geht an niemandem spurlos vorüber. Ich kann zwar nicht exakt messen, wie groß diese Wirkung ist, aber ich bin sicher, dass nach dem Konzert jeder die Natur und seine eigene Rolle als Mensch darin mit anderen Augen sieht.

Ist Ihnen eine Aufführung besonders in Erinnerung geblieben?

Menezes: Sebastião Salgado hat mir vor seinem Tod erzählt, dass auch für ihn das Konzert in Rio de Janeiro 2022 das bewegendste von allen war. Als wir nach mehrmaligem Applaus die Bühne verlassen wollten, standen plötzlich alle im Theater auf und stimmten die brasilianische Nationalhymne an. Damals war der Konflikt zwischen Jair Bolsonaro (bis Ende 2022 Präsident Brasiliens, Anm. d. Red.) und Lula in vollem Gange. In diesem Moment hatte es jedoch den Anschein, dass alle innehielten, um sich daran zu erinnern, dass wir eine Nation und von dieser außergewöhnlichen Natur umgeben sind.

Gleichwohl haben nach Angaben des WWF fast 35 Prozent des Amazonas-Bioms in den letzten zehn Jahren eine kritische Schwelle zur Selbstzerstörung erreicht. Hat „Amazônia“ für Sie auch eine politische Dimension?

Menezes: Absolut. Wir können nicht einfach weiterleben und den Zustand des Regenwaldes ignorieren. Ich denke, „Amazônia“ schärft das Bewusstsein für dieses Thema. Das ist zumindest mein Ziel.

Welches künstlerische Statement wollen Sie setzen?

Menezes: Villa-Lobos sagte einmal, seine Musik besinge die Flüsse und die Berge. Diesen Satz mag ich sehr. Für mich ist Musik ein kraftvolles Mittel, über die wichtigen Dinge des Lebens nachzudenken. Es geht nicht nur darum, ins Konzert zu gehen und zuzuhören, sondern auch darum, über das zu sprechen, was im Alltag wirklich zählt.

Ein Bewohner im Village of Nova Esperança, Rio Gregório Yawanawá Indigenous Territory
Ein Bewohner im Village of Nova Esperança, Rio Gregório Yawanawá Indigenous Territory

Gibt es einen Moment im Konzert, der Sie stets aufs Neue berührt?

Menezes: Lange Zeit sieht man Bilder der Natur, doch auf einmal erscheint eine Frau im Wald und ein menschliches Gesicht blickt einem entgegen. Es fühlt sich an wie eine wirkliche Begegnung, von Mensch zu Mensch, von Blick zu Blick. Für mich ist das jedes Mal ein zutiefst bewegender Moment.

Wie können auch Orchester und Dirigenten zur Nachhaltigkeit beitragen?

Menezes: Ich denke, wir leisten einen Beitrag zur Nachhaltigkeit vor allem dadurch, dass wir kluge Projekte entwickeln, die wichtige Themen in den Mittelpunkt rücken und diese möglichst intelligent umsetzen. „Amazônia“ ist auf seine Art umweltschonend. Anstatt mit einem einzigen brasilianischen Orchester um die Welt zu reisen, trägt ein kleines Team das Projekt an unterschiedliche Ensembles rund um den Globus heran. Dadurch entsteht auch eine interkulturelle Dimension.



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