Blind gehört mit Evgeni Koroliov

„Ach, das ist so schön“

Evgeni Koroliov hört und kommentiert Aufnahmen von Kollegen, ohne dass er erfährt, wer spielt

© Stephan Wallocha

Evgeni Koroliov © Stephan Wallocha

Evgeni Koroliov

Manchmal dauert es etwas länger, bis Künstler einverstanden sind, sich unserem „Blind gehört“ zu stellen. So auch bei Evgeni Koroliov. „Auf der Bühne bin ich nie so aufgeregt wie jetzt“, gesteht er dann auch seine Sorge, keinen der Künstler zu erkennen. Nachdem Tee für den Künstler und Aufnahmegerät für den Autor bereit sind, kann es losgehen.

Schubert: Sonate G-Dur D 894 – 1. Molto moderato i cantabile
Swjatoslaw Richter (Klavier)
Philips 1979/1994




Also vom Tempo her ist das Swjatoslaw Richter. Aber ich habe keine Ahnung, wo und wann die Aufnahme entstanden ist. Es wird aber eher eine Konzertaufnahme sein. Das Tempo ist schon ein bisschen moderat. Wissen Sie, je besser man spielt, desto langsamer kann man auch spielen, weil man etwas zu sagen hat. Wie Richter in diesem Fall. Tempo-Gefühl ist immer subjektiv und im Laufe des Lebens ändert sich dieses Gefühl auch. Ich glaube, als Musiker entwickelt man mit der Zeit eine Art „Psychotechnik“. Das heißt: Das, was man erst nur in langsamem Tempo ausdrücken konnte, kann man dann auch in etwas zügigerem Tempo ohne Verluste ausdrücken. Und das konnte man vielleicht mit 20 oder 25 Jahren noch nicht. Richter war bei uns sozusagen immer eines der Idole. Es ist in Russland populär, aus den Leuten Idole zu machen. Ich selbst hatte nie Vorbilder, aber ich habe mir natürlich schon die Leute, die bei uns populär waren, angehört. Also Richter, Emil Gilels, Wladimir Sofronitsky und natürlich Marija Judina, bei der ich auch Unterricht hatte. Von Richter habe ich sehr viele Konzerte gehört, von unterschiedlichster Qualität, es gab sicher auch etwas weniger glückliche Konzerte, aber auch viele ganz tolle.

Skrjabin: Sonate Nr. 3 op. 53 – 1. Dramatico
Wladimir Horowitz (Klavier)
RCA/Sony Music 1956/1989

  



Ich denke, das ist auch ein russischer Pianist oder eine Pianistin, nicht aber Sofronitsky. Es ist schön und musikalisch gespielt, aber es fehlt etwas, es ist ein bisschen harmlos. Aus welcher Zeit kommt diese Aufnahme? Mitte des Jahrhunderts? Der Klang ist eigentlich eher nicht von Gilels. Auch Heinrich Neuhaus oder Samuel Feinberg sind es nicht. Viel berühmter, sagen Sie? Ach, Horowitz? Ja, mein Gott, das ist wirklich er, ja, ich würde nicht unbedingt sagen, dass er der Größte war, aber der Berühmteste war er auf jeden Fall (lacht). Ah, deswegen dachte ich vielleicht, es könnte eine Pianistin sein. Er hat manchmal einfach viel zu schön gespielt, ein bisschen feminin, was oft sehr gut passt, aber manchmal doch auch nicht. Natürlich sind das nur Nuancen und sehr subjektiv. Horowitz hat vieles toll gespielt. Er war ein phänomenaler Virtuose, besonders in jungen Jahren. In späten Jahren war er zwar nicht mehr so virtuos, aber er ist dafür zu einem etwas noch bedeutenderen Musiker geworden. Mit achtzig Jahren (lacht). Da gab es ganz tolle Sachen von ihm.

Mozart: Klavierkonzert d-Moll KV 466 – 1. Allegro
Clara Haskil (Klavier)
Westminster/Universal 1950/2001

  



Also zeitlich kommt das wieder aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Ein sehr guter Musiker oder eine Musikerin mit exzellentem Geschmack und gutem, leichten Klang. Ist das Clara Haskil? Ich dachte erst, das könnte Wilhelm Kempff sein, aber so gut spielte der nicht Klavier. Bei ihr ist alles sehr unspektakulär. Man hört sofort diesen Charme, diese innerliche Einheit, Einfachheit und Noblesse. Das war ganz oft bei ihr so. Schön! Sie war nicht sehr bekannt in der Sowjetunion und ist auch ziemlich früh gestorben. Aber als ich ihre Aufnahmen hörte, war ich gleich in ihrem Bann. Sie hatte einen tollen Geschmack. Diese Selbstverständlichkeit, dass die schöne geniale Musik für sich selbst spricht, ja das hat mich gleich bezaubert. Bisher waren Sie noch sehr gnädig mit mir, ich hoffe, das bleibt so (lacht).

Skrjabin: Sonate Nr. 3 op. 53 – 1. Dramatico
Wladimir Sofronitsky (Klavier)
Philips/Melodiya 1958/1999





Ich weiß jetzt nicht, ob das Sofronitsky ist, aber das ist was anderes, nicht wahr? Der Griff ist ganz anders. Und jetzt hören Sie mal, das ist es, ja. Gut! Also ich sage, es ist Sofronitsky. Er hat ja praktisch nicht im Westen konzertiert, obwohl er ein sehr guter Pianist war. Als er jünger war, war er zwar ein besserer Pianist, aber nicht so ein Musiker wie später. Er wurde von vielen Leuten in der Sowjetunion fast vergöttert. Wenn er spielte, das war manchmal wie Magie. Ich erinnere mich an ein Konzert, hier war vielleicht der Flügel (zeigt direkt neben sich), alles war ziemlich dunkel, nur eine Lampe beim Klavier. Und ich als vielleicht Neun- oder Zehnjähriger stand da und lauschte – das war Zauberei. Diese Klänge! Ein Horowitz wusste, wie man das Publikum bezaubert. Sofronitsky aber lebte das, er lebte diese geniale Musik. So etwas habe ich nie mehr gehört.

Debussy: Préludes – 1er Livre
Arturo Benedetti Michelangeli (Klavier)
DG 1978/1991

  



Das muss Michelangeli sein, die Akkorde sind so zusammen und so ein bisschen rücksichtslos forte (lacht). Er nimmt sich die Zeit, um das vorzubereiten. Ich verzeihe ihm das gerne, denn ich mag ihn sehr gerne, also nicht alles, aber viel. Michelangeli wollte immer sehr, sehr sauber spielen. Als ich ihn zum ersten Mal 1964 in Moskau gehört habe, war das wahnsinnig eindrucksvoll, nicht so sehr die Perfektion, sondern eher die Palette, die Klangfarben, besonders bei Debussy, das war absolut faszinierend. Michelangeli hat ja ganz wenig gespielt, dafür natürlich immer wie geschliffen (lacht). Er hatte so eine Art Reinlichkeits-Fimmel oder eine Art Ehrgeiz oder Eitelkeit, perfekt zu spielen. Es gibt Leute, die zur Perfektion tendieren. Auch ein Jan Vermeer war so, ein Rembrandt dafür nicht unbedingt, trotzdem war er ein ganz toller, großer Maler. Es gibt eben unterschiedliche Temperamente.

Ravel: Gaspard de la nuit
Martha Argerich (Klavier)
DG 1960/2016

  



Das ist auch aus einer älteren Zeit, nicht ganz so alt, nein, aber etwas älter. Das ist irgendjemand, der sehr geradeaus spielen will, was ich toll finde, wie jetzt im Thema der Ondine. Manchmal ist es für meine Begriffe noch zu sehr an der Oberfläche. Es könnte Gieseking sein oder ein französischer Pianist? Moment, darf ich noch ein bisschen? Zuerst dachte ich ja, es könnte Martha Argerich sein, aber dafür ist es zu unsauber, Martha ist so eine Virtuosin. Oh Gott, sie ist es? Tut mir leid, ich nehme das mit „zu unsauber“ zurück (lacht). Das ist sehr schnell gespielt und nicht so gut, deshalb dachte ich, vielleicht ein Älterer, der nicht so viel Wert legte auf Sauberkeit. Ich dachte auch an Walter Gieseking, es scheint mir aber klanglich ein bisschen zu wenig raffiniert. Vielleicht liegt es auch am Instrument. Aber gut, Geradlinigkeit hat Martha auch. Und ja, sie kann auch sehr tiefe Momente haben, Gott sei Dank. Ist das wirklich im Studio aufgenommen und keine Live-Aufnahme? Ach so, das war eine Rundfunkaufnahme? Ja, ich kenne das, die wurde dann wahrscheinlich in anderthalb Stunden aufgenommen, ich habe so was auch gemacht. Das war ein geschickter Zug von Ihnen (lacht).

Liszt: Études d’éxecution transcendante – Nr. 12 Chasse neige
Daniil Trifonov (Klavier)
DG 2015

  


Die Aufnahme kenne ich sicher nicht, das Repertoire ist auch nicht so ganz mein Metier. Die Manier oder die Gestik klingt nach einem älteren Pianisten, es könnte vielleicht Artur Rubinstein sein oder Claudio Arrau. Vielleicht ist er auch nicht ganz dieses Kaliber. Das ist eine aktuelle Aufnahme? Dann ist es wahrscheinlich Daniil Trifonov. Aber er hat dann auch ein bisschen diese Manier. Aber ich unterstelle ihm, dass er das nicht absichtlich macht, das kommt vielleicht so aus ihm. Früher habe ich solche Manierismen bei ihm nicht so bemerkt. Aber man entwickelt sich mit der Zeit (lacht). Diese Gestik hat man sich eigentlich in der letzten Zeit abgewöhnt. Das ist jetzt nicht bewertend gemeint, weder positiv noch negativ. Hier schien es mir einfach so innig, deswegen dachte ich, vielleicht ein alter Pianist. Aber es ist gut, wenn Trifonov so spielt. Ich war ja in der Jury im Tschaikowsky-Wettbewerb, als er den ersten Preis gewonnen hat. Aber interessant, dass das auch eine Studioaufnahme ist, manches klingt gar nicht danach.

Bach: Goldberg-Variationen BWV 988 – 1. Aria
Glenn Gould (Klavier)
Sony Classical 1981/2012

  



Das ist jetzt leicht (lacht). Ich erinnere mich sehr gut, wie meine erste Lehrerin mich als siebenjähriges Kind zu einem Konzert von Glenn Gould im kleinen Saal des Tschaikowsky-Konservatoriums mitnahm. Die modernen Sachen, die er spielte, habe ich damals natürlich noch nicht verstanden. Aber dann spielte er drei Kontrapunkte aus der „Kunst der Fuge“. Und diese Musik war für mich wie ein Blitzschlag. Na ja, natürlich hat er auch sehr gut gespielt, nehme ich jetzt einmal an (lacht). Und irgendwie habe ich dann danach gedacht, ich möchte das selbst einmal spielen und ein „Bachist“ werden. Also so gesehen hat Glenn Gould in meinem Leben eine kleine Schlüsselrolle gespielt. Wenn die Lehrerin das damals nicht gemacht hätte, ich weiß nicht, was dann passiert wäre. Viel später habe ich selbst die „Kunst der Fuge“ einstudiert. Und natürlich mit absolut eigenen Vorstellungen. Wobei: Bei diesen drei Stücken bin ich vom Tempo her so geprägt von seinen Vorstellungen, dass ich sie sozusagen zu meinen eigenen gemacht habe. Ich habe mit dieser Musik lange gelebt, auch mit allen Kantaten, faktisch mit allem von Bach. Ich habe sie nicht wissenschaftlich untersucht, sondern habe richtig mit ihr gelebt. Und dann dachte ich mir, ich spiele sie, wie ich es fühle, dass es nicht gegen den Geist dieser Musik ist.

Mussorgsky: Bilder einer Ausstellung
Lev Oborin (Klavier)
BNF Collection 1954/2016





Ach, das ist so schön. Es ist irgendetwas in diesem Spiel, das mir sehr nahegeht. Das ist so ehrlich. Und auch sehr musikalisch. Könnte es Lev Oborin sein? Wirklich? Wo haben Sie das denn ausgegraben? Ich dachte nie, dass er das aufgenommen hat. Er war ein genial begabter Musiker. Aber faul wie Oblomow (Titelfigur des Romans von Iwan Gontscharow, Anm. d. Red.). Er hat es sich nicht erlaubt, ein großer, weltberühmter Pianist zu werden, nicht aus Bescheidenheit, sondern einfach, weil er zu faul war. Essen und Trinken waren ihm wichtiger (lacht). Als mein Lehrer hat er natürlich eine große Rolle gespielt. Wenn ich zu ihm gekommen bin, dann hat er erst mit mir über Musik und über Gott und die Welt zu sprechen begonnen (lacht). Und manchmal gingen so anderthalb Stunden um und ich hatte noch überhaupt nicht gespielt. Erst später habe ich verstanden, was ich von ihm in diesen Gesprächen und seinen Erzählungen bekommen habe. Das hat alles in mir nachgewirkt und war immer gut. Ja, da haben Sie mich jetzt wirklich erfreut, dass es da eine Aufnahme gibt!

CD-Tipp

Beethoven: Diabelli-Variationen Große Fuge B-Dur op. 134 u. a.

Evgeni Koroliov & Ljupka Hadžigeorgieva (Klavier)
tacet

Rezensionen

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