Es war ein Glück, dass man in Leipzig kaum fassen konnte, der Stadt mit der überwältigenden Musikgeschichte und den vielen größenwahnsinnigen Ambitionen. Eine, die aufging, zeichnete sich ab, als 2005 Riccardo Chailly als 19. Gewandhauskapellmeister dem eher spröden, aber sehr effektiven Orchestererzieher Herbert Blomstedt nachfolgte. Eine gewaltige Aufmerksamkeit war ihm sicher, denn der Italiener mit dem sprichwörtlichen Temperament hätte mit seinen Amsterdamer und Mailänder Erfolgen jedes Orchester der Welt haben können – und kam doch nach Leipzig. Die Journaille reibt sich bis heute verwundert die Augen, dass Chailly regelmäßig Abwerbeangebote ausschlägt. Und sie applaudiert überall auf der Welt den Musikern aus der Stadt Bachs und Mendelssohns für ihren Zauberklang. Chailly leitet im Mai eine Deutschlandtournee des Orchesters und kommt dabei auch nach Hamburg.
Erinnern Sie sich an Ihr erstes Hamburg-Gastspiel?
Nicht genau, aber ich weiß, dass ich mit dem damaligen Radio-Sinfonieorchester Berlin in den 80er Jahren in Hamburg war. Herrje, da war ich noch jung und hatte ein wildes Temperament, ich glaube, das ist heute etwas verändert.
Na hören Sie mal! Sie gelten ja auch heutzutage als ungeheuer temperamentvoll, auch wenn Sie vielleicht viel genauer, historisch informierter dirigieren.
Das ist heute etwas anderes. Mit dem Gewandhausorchester gibt es ein viel intensiveres Verhältnis, es spielt wärmer. Und die Erwartungshaltung ist höher, je größer der Ruf ist. Gerade in Hamburg ist das Publikum sehr aufmerksam, sehr konzentriert, sehr kultiviert. Aber auch sehr kritisch.
Verfolgen Sie die endlose Geschichte der Elbphilharmonie?
Die Hamburger werden stolz sein können auf ihre Elbphilharmonie, das wird ein europäisches Zentrum der Musikpflege und ein Treffpunkt für die wichtigsten Figuren der Klassikszene. Ich muss aber dazusagen, dass mir immer die Laeiszhalle gefallen hat, wo wir auch diesmal spielen. Sie wurde ja damals nach dem Vorbild des leider im Krieg zerstörten Alten Gewandhauses in Leipzig gebaut. Die Akustik ist wunderbar, es gibt eine große Publikumsnähe.
Ist Ihnen die wichtig? Brauchen Sie das Publikum für Ihre glühenden Interpretationen?
Ich bin glücklich, wenn beim Publikum ankommt, was wir meinen. Aber die Interpretationen müssen aus sich selbst heraus glühen. Sie müssen Temperament und Präzision vereinen.
Sie reisen mit Mahlers vierter Symphonie und Ravels erstem Klavierkonzert. Die Entstehungszeiten sind gar nicht weit voneinander entfernt, aber die musikalischen Unterschiede sind augenfällig. Warum diese Kombination?
Die Entstehungszeit beider Werke liegt nur dreißig Jahre auseinander (1900, 1931) und sie fangen mit einer Überraschung an: Mahler mit Schellenklang, Ravel mit einem Peitschenhieb. Sie sind auch beide sehr leicht, in ihrer jeweils eigenen Sprache. Und sie haben Humor. Ravels Konzert ist stellenweise richtig lustig, er blickt dabei ganz klar in Richtung Jazz. Und bis zur Vierten ist auch Mahler noch humorvoll, erst danach werden seine Sinfonien dramatischer. Zum Beispiel erster und vierter Satz sind geradezu Charakterstücke. Im zweiten Satz von Ravels Klavierkonzert finden Sie einen rhythmisch gebrochenen, asymmetrischen langsamen Walzer, das ist ausgesprochen geniale Musik. Wenn Sie das mit dem Scherzo im zweiten Satz der 4. Sinfonie von Mahler vergleichen, können Sie ganz erstaunliche, unbekannte Brücken beschreiten. Das ist nämlich auch ein gebrochener Walzer.
Wählen Sie eigentlich Ihre Solisten immer selber aus? Was muss ein Pianist – in diesem Fall die gefeierte Hélène Grimaud – können, damit Sie sich für das, was er zu sagen hat, interessieren?
Ich suche meistens meine Solisten in einem offenen Dialog mit unserer Dramaturgin aus. Bei Ravel weiß ich schon, was mich erwartet, denn mit Hélène Grimaud haben wir schon vor wenigen Jahren das Stück gespielt, das war eine glückliche musikalische Liaison. Und die wunderbare Sopranistin Luba Orgonásˇová haben wir auch schon schätzen gelernt. Ende April fahren wir mit ihr in den Vatikan, um dem Papst zum 85. Geburtstag mit dem Lobgesang von Felix Mendelssohn musikalisch zu gratulieren.
Es gibt aber auch Situationen, in denen man unvorbereitet ist?
Das macht dann aber auch die Faszination aus, dieses Risiko nehme ich gerne in Kauf. Und jedes Stück ist eine Reise in Partnerschaft, ich begreife mich nie als Begleiter. Ich glaube, das hat auch unsere Aufnahme mit Bachs Klavierkonzerten mit Ramin Bahrami relativ schnell berühmt gemacht: Solokonzerte sind ein Geben und Nehmen zwischen beiden musikalischen Akteuren, auch bei Bach.
Das Gewandhausorchester verließ erst 1916 zum ersten Mal unter Arthur Nikisch die Stadt. Seitdem wird es weltweit gefeiert. Erkennt das Publikum die Qualitäten, oder ist das eine Modeerscheinung, dass man „die Leipziger“ gut findet?
Das Publikum erkennt die Qualität. Und es begreift, dass wir, wohin auch immer wir reisen, ob nach Asien oder Nordamerika, eine Wahrhaftigkeit transportieren, die mit unseren musikalischen Wurzeln zu tun hat. Wer das Gewandhausorchester hört, hört immer auch Bach, Mendelssohn, Wagner mit. Bach ist sehr wichtig für die Spielkultur, das hören Sie auch bei Schumann und Mendelssohn heraus. Ich habe das noch nie so gespürt wie in Leipzig.
Klingt denn das wirklich immer nach?
Diese starken historischen Verbindungen sind bis heute ein Identifikationssymbol mit Leipzig. Das ist ja auch keine Einbahnstraße. Nehmen Sie Bach, der ist zum Beispiel nach Hamburg gefahren, um Reinhard Keiser und Dieterich Buxtehude spielen zu hören. Da haben Sie eine historische Parallelität.
Ist dieser „Nachhall“ nicht von Werk zu Werk unterschiedlich?
Natürlich, Sie haben Recht. Aber verstehen Sie, was ich meine! Die reiche musikalische Geschichte dieser wunderbaren Stadt prägt eben nicht nur das Image des Orchesters, sondern auch seinen Klang.
Legendär ist der warme Streicherklang, die dunklen Nuancierungen der Holzbläser, die satten Farben, die romantisierende Musizierhaltung. Der besondere Klang wird von Musikkritikern gelegentlich mit Mahagoni-Holz in Verbindung gebracht. Was finden Sie an dem Leipziger Klang besonders?
Seine Klang-Identität. Und die persönliche Wärme der Musiker, die Voraussetzung für ihr Spiel ist. Schauen Sie, es gibt hier keine Routine, sondern jeden Tag Lebendigkeit und Temperament. Dieser romantische Klang in all seiner tiefen, seelischen Sinnlichkeit macht mich immer wieder glücklich und stolz, dass ich dieses Orchester leiten darf. Es ist mir eine Ehre, immer wieder nach Leipzig zurückzukehren. Ich liebe diese Stadt! Und ich erinnere mich noch gut daran, wie mir 1986 Herbert von Karajan das Orchester in Salzburg empfahl. Wir spielten Don Juan – es gab eine regelrechte Explosion. Man kann als Dirigent ein Feuer legen, und wer es richtig macht, dem schlagen die Flammen aus dem Orchester entgegen. In unseren Konzerten sollen die zu hören sein.
Und das ist einmalig?
Einmalig ist vor allem die fast unwiederholbare Kombination der drei Elemente, in denen das Orchester zu Hause ist. Das Gewandhausorchester ist mit seinen 175 Musikerstellen deswegen das größte Orchester weltweit, weil es nicht nur im Gewandhaus selbst, sondern auch in der Oper und mit den Thomanern in der Thomaskirche spielt. Das finden Sie nirgendwo sonst auf der Welt, und es macht die musikalische Identität des Orchesters aus: Es ist einfach sehr kultiviert in verschiedene Richtungen. Welches große Sinfonieorchester spielt sonst so regelmäßig Barockmusik, wenn es sonst große Sinfonik und Opern spielt?
Schön und gut, aber wie sieht es mit der Moderne aus?
Moderne Musik ist sehr wichtig. Ihr Problem ist, es gibt viele schlechte und zu wenig gute Werke. Unser Beruf ist es, das Richtige auszuwählen. Ich schätze zum Beispiel Wolfgang Rihm sehr. Seine Verwandlung 2 haben wir in Leipzig bei meinem Amtsantritt uraufgeführt.
Ihr Debüt gaben Sie schon mit 16 Jahren in Mailand. 1974, da waren Sie gerade 21, holte Sie Claudio Abbado als Assistenten für sinfonische Konzerte an die Scala, wo Sie selbst später Chef wurden. Eigentlich kommen Sie ja von der Oper.
Das hat mich ja so an Leipzig gereizt – dass hier ein Sinfonieorchester auch Oper spielt.
Und deswegen wurden Sie hier auch Generalmusikdirektor. Aber ganz reibungslos verlief Ihre Ära nicht. 2007 warfen Sie wegen inhaltlicher Differenzen die Doppelfunktion Oper hin.
Gleichzeitig habe ich aber meinen Vertrag als Gewandhauskapellmeister verlängert. Die Leipziger Oper ist, und das habe ich immer gesagt, für ihre Geschichte und ihr einstiges Renommee zu wenig ausgestattet. Aber jetzt, mit Ulf Schirmer als Intendant, wird die Oper zu neuer Blüte gelangen.
Die Gralshüter des Großfeuilletons kippten damals ihre Häme über der Stadt aus. Die „Welt“ schrieb, sie habe sich schon immer gefragt, warum Sie „aus dem bequemen Concertgebouw-Amsterdam ausgerechnet zum vergleichsweise hässlichen und vor allem klammen Pleiße-Kulturentlein nach Sachsen“ gewechselt seien.
Wissen Sie, was in der globalisierten Künstlerwelt einfach nicht zu begreifen ist? Treue. Für mich lag und liegt der Reiz meiner Aufgabe darin, ein einst verkanntes Juwel zu polieren. Das Gewandhausorchester ist zwar überall bekannt, aber erst in den letzten Jahren genug anerkannt. Ich hatte kaum noch Wünsche, die ich mir erfüllen musste. In Leipzig dagegen kann ich eine neue Identität für ein Orchester entwickeln. In meinen Augen gibt es weltweit wenig andere Gelegenheiten, das zu tun. Wer meine Entscheidung für Leipzig als Überraschung gesehen hat, verkennt das Potenzial dieser Stadt.
Vermutlich halten Sie daher überhaupt nichts von Orchesterrankings.
Stimmt. Diese Art von Einsortierung nach einem fiktiven Punktesystem ist mir fremd. Musik und die Vermittlung ihrer Inhalte sind ja kein Leistungssport.
Aber Sie spielen weltweit ganz oben mit.
Mir ist die musikalische Identität des Orchesters wichtig. Und die ist immer wieder ganz nahe am reinen Glück.
Kennen Sie ein anderes?
Meine Frau Gabriella.
Was noch?
Gutes Essen. Das sieht man mir ja auch ein bisschen an.