Für den sommerlichen Genuss des vollendeten Mozart-Musizierens pilgern Festspielfreunde nach Salzburg – so wie sie für die Überwältigung durch vollgültige Wagner-Wonnen den Weg nach Bayreuth auf sich nehmen. So jedenfalls galt es einst. Wo die Deutungshoheit lag, schien klar. Heute klafft bei den lange kaum hinterfragten Marktführern festlicher Oper zwischen hoher Qualitätsvermutung und oft enttäuschender Wirklichkeit freilich längst eine Lücke. In die nun jene Mitbewerber stoßen können, die mit hohem Anspruch und harter Arbeit dem magischen Mix auf der Spur sind: Wie geht Mozart? Dessen Leichtigkeit ach so schwer ist. Wie besetzt man ihn? Wenn die wenigen Stars dieses Fachs zu Spitzengagen bei der Konkurrenz singen. Welche Tugenden braucht ein Orchester? Da selbst die Wiener Philharmoniker in ihrer Sommerresidenz an der Salzach keine Garantie auf jene absolute Inspiriertheit bieten, die „ihr“ Mozart braucht, um für den Abend einer Opernvorstellung lebendig zu werden.
Die Netrebkos von morgen schon heute hören
Seit nunmehr 80 Jahren verschreibt man sich in Glyndebourne gänzlich anti-museal dem Musensohn der Klassik. Er ist das Herzstück. Doch auch Händel, Verdi, Wagner und natürlich immer wieder Britten wurden und werden hier im wahrsten Sinne des Wortes gefeiert. Hier wird das Fest selbst zum Ereignis, ohne je ins Eventhafte abzugleiten. Hier gibt’s kein Salzburger Star-Gewese. Die Sänger sind fulminant, aber viele der Sopranistinnen und Tenöre sind noch Geheim-Tipps: Hier bekommt man die Netrebkos von morgen schon heute zu hören. Wobei es weniger die einzelnen Namen sind, die hier begeistern, sondern im besonderen die perfekt aufeinander abgestimmten Ensembles.
Musizieren mit Explosionsenergie
So wird Glyndebourne, da Salzburg, zumal im Don Giovanni, in dieser Hinsicht gerade schwächelt, zum heimlichen Mozart-Mekka. Das Bariton-Doppel des jungenhaften Latin Lovers Elliot Madore in der Titelpartie und des sympathischen Thomas Müller-Wiedergängers Edwin Crossley-Mercer als Leporello harmonieren perfekt. Die Grace Kelly-Schönheit der Layla Claire verströmt als Donna Anna einen überwältigenden jugendlich-dramatischen Aplomb. Serena Farnocchia schleudert ihre Elvira-Enttäuschung über den untreuen Gatten in präzis barocker Verzierungslust in den Saal – ihre Klangrede geht zu Herzen. Das trennscharf schlank und sehnig federnd musizierende London Philharmonic Orchestra vermittelt dazu unter dem fantastischen Andrés Orozco-Estrada in jeder Pore der Partitur die Inspiriertheit dieser Oper aller Opern. Welche Phrasierungseleganz, welche Knackigkeit, welche Explosionsenergie! Bei Andrés Orozco-Estrada und den Londonern klingt der Begriff „historisch informierte Aufführungspraxis“ nicht nach faulem Kompromiss, sondern eben ganz einfach nach dem so diffizil aufzuspürenden Ideal: nach Mozart-Authentizität.
Don Giovanni trifft La Dolce Vita
Jonathan Kents Inszenierung des Don Giovanni muss das Wunderwerk dabei gar nicht neu erfinden, er verlegt das Geschehen klug und sensibel ins Umfeld des italienischen Kinos der späten 50er Jahre – Fellinis La Dolce Vita stand Pate. Die Wiederaufnahme der Produktion des Festivals von 2010 hat dabei nichts von zweitem Aufguss: Sie ist musikalisch wie szenisch erste Wahl, weder konzeptionelle Kopfgeburt noch Sensation, sondern ein Musiktheater, das die Geschichte erzählt, den Figuren vertraut und die jugendliche Unschuld dieses herrlichen Sänger-Teams in all seiner unverbrauchten Frische und seiner echten Mozart-Neugier vermittelt.
Frühfigarosche Affektnatürlichkeit: La finta giardiniera
In Mozarts pubertärer, noch nicht in jeder Note genialer La finta giardiniera führt Frederic Wake-Walker die noch präzisere, auch die ambitioniertere Regie. Zunächst stellt er in einem Rokoko-Palazzo mit köstlicher Ironie und dabei nur zarter Überzeichnung die Personnage der Commedia dell’Arte vor, nutzt die barocke Gestik in der Verwechslungskomödie als ein kunstvoll witziges „So tun als ob“, entlarvt die Affekt-Behauptungen dieses im ersten Akt etwas einschläfernd professionellen Plätscher-Mozart. Der einzig „wahre“ Charakter ist Sandrina in Gestalt und Stimme der wunderbaren Christiane Karg. Sie berührt mit edler Sopransahne und echter Seelentiefe. Ihr Part wartet dazu denn auch mit bereits „modernem“ Mozart auf – die psychologische Durchformung von Musik und Charakter weist hier dezidiert auf die Da Ponte-Trilogie voraus. Die Donna Anna, die Gräfin, die Fiordiligi, auch die Pamina sind in der Sandrina gleichsam vorgehört.
Das problematische Schwanken des Frühwerks zwischen künstelnder barocker Typenkomödie und frühfigaroscher Affektnatürlichkeit macht der Regisseur höchst geschickt zum Konzept. Der Palazzo wird in seine Einzelteile zerlegt, es wächst geradezu Gras über ihn. Die Natur setzt sich durch, mit ihr die Natürlichkeit der puren Menschlichkeit, die, nun aller Perückenpracht entkleidet, sich mit dem wiedergefundenen Paar aus Sopran und Tenor feiern lässt. Die schematische Opera Buffa des Barock endet als Mozartsche Seelenoper. Glyndebournes Musikdirektor Robin Ticciati und das Orchestra of the Age of Enlightenment betonen ihrerseits die Reinheit dieser Musik. Und Glyndebourne erobert sich – einmal mehr mit einem jungen bestrickenden Ensemble – ganz locker die Deutungshoheit in Mozartdingen.
Glyndebourne
Mozart: Don Giovanni / La finta giardiniera
Ausführende: Andrés Orozco-Estrada / Robin Ticciati (Leitung), Jonathan Kent / Frederic Wake-Walker (Inszenierung), Elliot Madore, Edwin Crossley-Mercer, Layla Claire, Serena Farnocchia, Ben Johnson, Taras Shtonda, Lenka Máciková, Brandon Cedel / Christiane Karg, Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, Rachel Frenkel, Joélle Harvey, Gyula Orendt, Nicole Heaston, Joel Prieto, London Philharmonic Orchestra / Orchestra of the Age of Enlightenment