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Opern-Kritik: Opéra national de Paris – Fin de partie

An den Abgründen der Seele

(Paris, 30.4.2022) Pierre Audis Mailänder Uraufführungs-Produktion von György Kurtágs einziger Oper „Fin de partie“ feiert in Paris Premiere.

vonAndré Sperber,

Ein verhärmt-verbitterter blinder Mann im Rollstuhl, ein lahmender, rastloser Diener, ein altes Ehepaar, das ohne Beine in Mülltonnen lebt. Sie alle warten auf das Ende ihrer Verzweiflung. Das ist die personelle Ausgangslage in György Kurtágs „Fin de partie“. Schnell wird klar: Diese Welt kann zu nichts führen – doch soll sie das auch gar nicht.

Vor vier Jahren feierte das vielschichtige Werk seine Uraufführung an der Mailänder Scala und sorgte rundum für Aufsehen unter Publikum und Kritikern. Es ist das einzige Opernwerk des ungarisch-französischen Komponisten, der es im hohen Alter von 92 Jahren vollendete. Seine Inspiration für den Stoff fand Kurtág jedoch schon deutlich früher. 1957 besuchte er die Theaterpremiere von Simon Becketts gleichnamigem Drama in Paris. Nun, nach über 60 Jahren, hat das Werk seinen Weg in die französische Hauptstadt zurückgefunden und ist damit dem seltenen Phänomen einer möglichen zeitgenössischen Repertoire-Oper ein Stück nähergekommen.

Szenenbild aus „Fin de partie“
Szenenbild aus „Fin de partie“

Ein Plädoyer der Herz- und Hoffnungslosigkeit

Denn die Inszenierung des gebürtigen Libanesen Pierre Audi wurde seit der Mailänder Uraufführung auch in Valencia und Amsterdam auf den Prüfstand gestellt und konnte sich jetzt endlich auch in der prunk- und glanzvollen Opéra Garnier beweisen. Die nackte Kälte und düstere Zurückgezogenheit des minimalistischen Werks bildeten dabei einen geradezu parodistischen Kontrast zum güldenen, herrlich kunstreichen Pomp des traditionsreichen Opernhauses.

Kurtágs rund zweistündiger Einakter setzt sich aus einer Verkettung von vierzehn kurzen szenischen Einblicken zusammen, die wiederum hauptsächlich aus Monologen bestehen. Das Geschehen verfolgt weniger eine logische Handlung in dem Sinne, als vielmehr die Darstellung des bitteren Seelenlebens der vier Protagonisten, die hilflos nebeneinanderher existieren und in ihrem bemitleidenswerten Elend nichts anderes ersehnen, als ihrer am Abgrund stehenden Welt und der Einsamkeit ihres Seins zu entfliehen – dennoch bleiben sie dabei von tatenloser Trägheit beherrscht. Ein Plädoyer der Herz- und Hoffnungslosigkeit; eine klingende Depression. Jedoch immer wieder geschickt und auf derartig faszinierende Weise mit pechschwarzem Humor gespickt, dass das Ganze fassbar bleibt, mitunter sogar komisch wirkt und dadurch – zumindest für die Zuschauenden – ertragbar wird und nicht überfordert.

Szenenbild aus „Fin de partie“
Szenenbild aus „Fin de partie“

Eigenes musiktheatrales Format

Schon mit der Einordnung und Interpretation der Beckettschen Literaturvorlage, von der Kurtág in seinem eigenverfassten Opernlibretto etwa sechzig Prozent aufgreift, hatte man seinerzeit Schwierigkeiten und fand sich in den Begrifflichkeiten eines absurden und abstrakten Theaters wieder. Ergänzt um eine nicht minder komplexe musikalische Ebene, erweitert sich der Stoff zu einem ganz eigenen musiktheatralen Format. „Es gibt Opern und es gibt ‚Fin de partie‘“, so beschreibt es auch Dirigent Markus Stenz im concerti-Interview. 2018 hatte er die Uraufführung geleitet und steht nun auch in der Pariser Version am Pult. Er und das Orchestre de l’Opéra national de Paris arbeiten die Nuancen und vielfältig verflochtenen Strukturen in Kurtágs Partitur glasklar heraus. Das düstere Grummeln der tiefen Register und die hingeworfenen Klangfetzen spiegeln das trostlose Geschehen auf der Bühne ebenso wider, wie das ständige Alternieren verschiedener Instrumentengruppen ­– auch im Graben spielt und existiert, bis auf einige wenige Berührungspunkte, jeder für sich. Hinzu kommt immer wieder auch die echoartige instrumentale Nachahmung menschlicher Laute, vom keck kieksenden Kichern bis hin zu jammervoll-ächzend gähnenden Glissandi.

Szenenbild aus „Fin de partie“
Szenenbild aus „Fin de partie“

Gesanglich hoch anspruchsvoll

Eindrucksvoll ist auch die Darbietung der Solisten. Die vier Rollen sind nicht nur gesanglich hoch anspruchsvoll, sondern verlangen den Sängern auch schauspielerisch einiges ab. Beides gelingt auf hohem Niveau. Obwohl Frode Olsen als blinder Hamm in seinem Rollstuhl quasi bewegungsunfähig ist, versprüht er mit seinem fulminanten, herben Bass eine einnehmende, aber auch unheimliche Wirkung. Er und sein Diener Clov, verkörpert vom stets beunruhigten Bariton Leigh Melrose, schaffen als einzige im Stück einen kurzen, dadurch wirkungsvollen Moment des gesanglichen Zusammenklingens. Für besonders tragikomisches Empfinden sorgen vor allem Hamms ärmliche Eltern Nell und Nagg, die in zwei rostigen blauen Mülltonnen, direkt vor dem trist grau melierten, in einfachen Konturen dargestellten Haus (Bühnenbild: Christof Hetzer) untergebracht sind. Die von Hilary Summers und Leonardo Cortellazzi geradezu erweichend gesungenen und meist aneinander vorbei geführten Dialoge erwecken bei aller Bitterkeit etwas Liebenswertes.

Kurtág gehört mit Recht zu den bedeutendsten Komponisten der Gegenwart, und eigentlich hätte er sich schon deutlich früher dem Musiktheater zuwenden sollen. Denn seine „Fin de partie“ zeigt eine ganz besondere Einmaligkeit, die zwar zunächst schwierig, verwirrend und abstrakt erscheint, aber gleichzeitig auf geniale Weise von vorne bis hinten in sich stimmig ist. Ein Werk, dessen Aufführungsfrequenz sich in Zukunft unbedingt weiterhin erhöhen sollte.

Opéra national de Paris
Kurtág: Fin de partie

Markus Stenz (Leitung), Pierre Audi (Regie), Christof Hetzer (Bühne & Kostüm), Urs Schönebaum (Licht), Klaus Bertisch (Dramaturgie), Frode Olsen, Leigh Melrose, Hilary Summers, Leonardo Cortellazzi, Orchestre de l’Opéra national de Paris

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