Wir kennen das von den Erzählungen, mit denen uns Oma und Opa zu unterhalten versuchten: Sie berichteten immer wieder von der guten alten Zeit, tischten uns mit geringen Varianten die immergleichen Geschichten auf. Dahinter steckt etwas allzu Menschliches: Wenn die Zukunft dahinschmilzt, wird nicht nur die Gegenwart bedeutungsarm, sondern die Vergangenheit schiebt sich immer mehr mit Macht ins eigene Bewusstsein. Doch wie ungleich krasser muss es sein, wenn es nicht nur um das eigene Altern und die eigene Endlichkeit geht, sondern um nicht weniger als das Ende der Welt.
Die Inhaltsangabe im Programmheft bringt die Handlung der Oper bestürzend auf den Punkt: „Nach einer globalen Katastrophe scheint sich die Welt in ihrem zivilisatorischen Endstadium zu befinden – dem Endspiel. Vier Menschen leben zusammen auf engstem Raum in einem Haus am Meer: Hausherr Hamm, der im Rollstuhl sitzt; sein Diener Clov, der sich nicht setzen kann; Hamms Eltern Nagg und Nell, die keine Beine mehr haben und wie menschlicher Abfall behandelt werden. Obwohl voneinander abhängig, machen sich die Vier gegenseitig das Leben schwer: Hamm kann die Anwesenheit seiner Eltern und ihr Geplauder kaum noch ertragen; Nell kann Nagg nicht mehr ausstehen; Clov kümmert sich mit sarkastischer Distanziertheit um die übrigen Hausinsassen. Sie alle warten auf das Ende der statischen, klaustrophobischen Situation, in der sie sich befinden.“
Mehr Nähe geht nicht
György Kurtág, der jüngst in seiner Wahlheimat Budapest seinen 98. Geburtstag feiern durfte, kittet in seiner späten ersten Oper, die anno 2018 an der Mailänder Scala ihre Uraufführung erlebte, einen erstaunlichen Widerspruch. Er schreibt in Anlehnung an Samuel Becketts Drama ein musiktheatralisches Kammerspiel für gerade mal vier Sänger und setzt dieser Intimität dann ein Riesenorchester von Richard Strauss’schen Ausmaßen entgegen. Während in Mailand der Gegensatz als solcher belassen wurde, wollten Dortmunds Opernintendant Heribert Germeshausen und Ingo Kerkhof als der Regisseur seiner Wahl eine echte Lösung für die unbestrittene Herausforderung bieten: Die Zweitinszenierung sollte einen veritablen Mehrwert in der Aufführungsgeschichte des Werks bieten. Und genau dies liefert die Deutsche Erstaufführung nun auch: Sie lebt ganz von der Unmittelbarkeit und Nähe des Kammerspiels: Denn das Publikum spürt in der verblüffend einfachen Bühnenlösung gleichsam den Atem der Darsteller.
Es sitzt nicht in üblicher Distanz im Zuschauerraum, sondern mitten auf der breiten Dortmunder Bühne mit dem Blick zurück auf die Ränge des Theaters. Nur wenige Zentimeter davor beginnt der grüne Kunstrasen, auf dem sich das Geschehen abspielt und den Ausstatterin Anne Neuser in denkbar radikaler Reduktion auf das Wesentliche konzipiert hat: Links steht ein Klavier, rechts ragen zwei Mülltonnendeckel wie Gullideckel aus dem Boden, in der Mitte steht der Rollstuhl des Hauptdarstellers Hamm. Erst dahinter – ein Gazevorgang trennt und verbindet zugleich die Welten der Darstellung und jene des Klangkörpers – haben die Dortmunder Philharmoniker Platz genommen. Will sagen: Mehr Nähe geht nicht.
Eine neue „Tragedia dell‘ascolto“: Die Qualität dieser Komposition ist bestechend und singulär
Als sich dann sogleich Kurtágs unheimliche Klangfindungen unter die Haut schleichen und alsbald bis in unsere Seelen kriechen – die Qualität dieser Komposition ist bestechend und singulär – wird deutlich: Diese in Italien von einem aus Rumänien stammenden Ungarn mit französischem Pass aus der Taufe gehobene Oper ist eine „tragedia dell’ascolto“, wie Luigi Nono (ein direkter Zeitgenosse György Kurtágs) einst seinen „Prometeo“ bezeichnete. Damit ist weit weniger eine kompositorische Verwandtschaft gemeint als die Tatsache, dass „Fin de Partie“ eine handwerkliche wie expressive Stärke besitzt, die auf der visuellen Seite ein angemessenes Feingefühl und eine entsprechende Zurücknahme erfordert. Diese Musik fesselt durch die ungemein erfindungsreichen Pointilismen einzelner Töne, durch das filigrane Netz von Tongespinsten, das Ausloten von Zwischentönen und unendlichen farblichen Valeurs, die immer neuen Varianten von Piani, Pianissimi und Pianopianissimi, denen sich hier selbst die tieftönende Tuba verschreiben muss.
Welch‘ eine Ökonomie der musikalischen Mittel, welch‘ konzises Aushören der orchestralen Couleurs! Und welch‘ eine formidable Umsetzung all dieser Feinheiten durch die Dortmunder Philharmoniker, die unter Gastdirigent Johannes Kalitzke eben nicht einfach nur penibel und hart erarbeitet haben, was da so alles an Unerhörtem in der Partitur steht. Das Orchester spielt bereits in der Premiere mit einer derartigen musikantischen Motivation und lustvollen Virtuosität, dass in den zwei spannungsprallen Stunden nie die gebannte Aufmerksamkeit des lauschenden Publikums nachlässt. Der ganz eigene Kurtág-Ton, in dem man mitunter dennoch die listige Sublimierung von Alban Bergs „Wozzeck“ und Béla Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ zu erkennen glaubt, gleicht einer Entdeckung, die dieser Oper ein Weiterleben sichern wird. So gut, so berührend kann Neue Musik sein!
Die Lösung eines uralten Opernstreits
An diese orchestrale Exzellenz schmiegt sich zwingend eine sängerische an wie einst der Sprechgesang eines Claudio Monteverdi zur sparsamen orchestralen Klangrede. Jedes (meist) Französisch gesungene Wort ist hier – auch dank der Bühnenlösung – genau zu verstehen, der alte Streit vom Primat des Wortes versus der Vormacht der Musik (diese jahrhundertealte Grundproblematik der Gattung Oper) ist hier zugunsten einer gemeinsamen Theatervision mit scheinbarer Leichtigkeit beigelegt. Verbirgt sich dahinter Kurtágs Altersweisheit? Die vier Sängerdarsteller haben freilich ebenso enormen Anteil am Einlösen eines riesigen Anspruchs.
Für die beiden größten Partien konnte die Oper Dortmund die Sänger der Uraufführungsproduktion gewinnen, denen der Komponist ihre Partien auf den Leib und in die Stimme geschrieben hatte. Frode Olsen, der große Bass aus dem hohen Norden, der bei Wagner so sehr eine sichere Bank ist wie in der Neuen Musik, gibt dem Hamm die stoische Würde, ja Grandezza des an den Rollstuhl Gefesselten, der in seinen Monologen an die in Ruhe erregten Erzählungen des Gurnemanz im „Parsifal“ erinnert. Ingo Kerkhof kann in seiner feinfühligen Personenregie auf das Charisma des Sängerdarstellers vertrauen und erlaubt sich dennoch eine entscheidende Neuerung zur Inszenierung der Uraufführung: Er stellt die das Stück prägenden Monologe in einen dialogischen Kontext, schärft die Interaktion zwischen Hamm und seinem clownesken Diener Clov, den Bassbariton Morgan Moody nie überzogen zwischen Komiker und Tragöde auspendelt.
Schönheitstrunkene musikalische Momente der Hoffnung
Ebenso köstlich Hamms Eltern, die in den beiden in die Erde eingelassenen Mülltonnen ihr endliches Dasein fristen. Die Mutter Nell von Mezzosopranistin Ruth Katharina Peeck ist ein der Welt abhanden gekommenes apathisches Wesen, bei der das Endspiel der Erde und das Endspiel ihrer Ehe sich auf grausam deprimierende Weise nahekommen. Leonardo Cortellazzi als ihr Mann Nagg macht hingegen das Beste aus dem doppelten Ende seines privaten wie des globalen Lebens: Er witzelt sich mit Galgenhumor durch die letzten Stunden der Menschheit, sein gleißender Tenor, der gleichwohl perfekt am Wort entzündet ist, gibt irgendwie Hoffnung, dass mit Ingeborg Bachmann „das Lied überm Staub danach“ einst das Weltende überstrahlen oder gar überhöhen wird. Das kleine blonde Mädchen, das den Abend mit dem in deutscher Sprache verkündeten Hinweis auf das „Ende des Fests“ einleitet und das Spiel dieser finalen „Partie“ dann auch beschließt, ist noch so ein Funken der Hoffnung. Die Momente der (gewesenen) Schönheit in Kurtágs großartiger Musik entzünden diesen feinen fragenden Funken.
Theater Dortmund
Kurtág: Fin de Partie
Johannes Kalitzke (Leitung), Ingo Kerkhof (Regie), Anne Neuser (Bühne & Kostüme), Kevin Schröter (Licht), Daniel C. Schindler (Dramaturgie), Frode Olsen, Morgan Moody, Ruth Katharina Peeck, Leonardo Cortellazzi, Dortmunder Philharmoniker