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Opern-Kritik: Oper Frankfurt – Der Traumgörge

Zwischen Realität und Traumwelt

(Frankfurt, 25.2.2024) An der Oper Frankfurt erheben sich spätromantische Klänge von besonderer Klangcouleur aus dem Orchestergraben: Unter der musikalischen Leitung von Markus Poschner wird die für ihre außergewöhnliche Komplexität gerühmte, aber selten gespielte Oper „Der Traumgörge“ von Alexander von Zemlinsky auf die Bühne gebracht. Mit einer Inszenierung der klaren Formen von Tilmann Köhler verdient sich…

vonPatrick Erb,

Es sind die tonmalerisch schönsten Momente dieser Oper, wenn der Protagonist Görge (eine Abwandlung von Jörg) halb narkotisiert sich in eine Traumwelt begibt. Eingehüllt in ein mystizistisches bis exotisches Klangtuch, das aus dem Orchestergraben hinaufsteigt, und unter dem nebulösen Bühnenlicht, kann er der Märchenprinzessin seiner Träume begegnen. In den irisierend sehnsuchtsvollen Harmonien und zähen Melodiefetzen scheint die Zeit stehen zu bleiben, das Glück für den jungen nervösen Mann perfekt zu sein.

Szenenbild aus „Der Traumgörge“
Szenenbild aus „Der Traumgörge“

Der Schatten als Spiegelung zur Wirklichkeit

Dabei braucht Görge, der an der Oper Frankfurt durch Tenor AJ Glueckert verkörpert wird, die „wahrhaftigen“ Traumsequenzen gar nicht. Mit den Märchen in seinen Büchern ausgestattet, kann sich der Görge auch hervorragend im Wachzustand in fremde Welten denken, sehr zum Unmut der verständnislosen Dorfgemeinde und seiner baldigen Verlobten Grete, kraftvoll ins Leben gerufen durch Magdalena Hinterdobler. Im bodenständigen und einfachen Dorfleben ist kein Platz für Feingeisterei und Hirngespinste. Eines davon ist die Sequenz, in der Zuzana Marková als Traumprinzessin Görge verführt.

Szenenbild aus „Der Traumgörge“
Szenenbild aus „Der Traumgörge“

Auch Glueckert beherrscht seine Rolle souverän: Gesanglich auf einem hohen Niveau, kann der Amerikaner die melodisch unglaublich anspruchsvolle, nicht minder an einen wagnerischen Tristan erinnernde Figur verkörpern; die Mimik changiert dabei fließend zwischen klarem Verstand, Sehnsucht und Wahn. Bildlich erfahrbar gemacht wird die Begeisterung für Märchenliteratur durch den spielerischen Umgang mit dem Bühnenlicht. Singt sich der verwaiste Pfarrerssohn begeistert in seine Erzählungen hinein, wird das Licht gedimmt und nur ein Scheinwerfer beleuchtet das Bühnenpersonal schlaglichtartig. Der an die Wand projizierte Schattenriss wird zum Geschehen; endet die Märchenerzählung, kehrt auch das Oberlicht zu seiner vollen Strahlkraft zurück. Doch alle Begeisterung ist vergebens. Seine Mitmenschen können ihn nicht verstehen, Görge verlässt auf der Suche nach seiner Prinzessin die Heimat.

Szenenbild aus „Der Traumgörge“
Szenenbild aus „Der Traumgörge“

Neue Sachlichkeit

Damit dieser cineastische Effekt seine volle Wirkung entfalten kann, hat sich Regisseur Tilmann Köhler für ein Bühnenbild der klaren Formen entschieden. Die Bühne ist vollständig umrahmt von Holzdielen, die mit der Schleifmaschine der neuen Sachlichkeit auf Hochglanz poliert wurden. Köhler braucht diese freien Flächen, denn im zweiten Akt erhalten die Projektionen, die stark an den sowjetischen Film im Stil Sergei Eisensteins erinnern, eine weitere Lesart. Görge lebt mittlerweile in einem neuen Dorf, dessen unzufriedene Bevölkerung sich nach Revolution sehnt (hier sei kurz auf die Vorlage des Librettos verwiesen, die auf die Zeit der Napoleonischen Kriege rückzuführen ist). Görge sympathisiert mit diesen Umsturzplänen und wird zum Revolutionsführer. Von erhobenen Fäusten umrankt, zeigt sein Schattenbild einen Lenin auf dem Dorfe.

Szenenbild aus „Der Traumgörge“
Szenenbild aus „Der Traumgörge“

Auch eine Choroper

Doch zur Revolution kommt es nicht, denn seine Vertraute im Dorf, Gertraud, ebenfalls durch Zuzana Marková verkörpert, gilt als Hexe. Dadurch, dass er zu ihr hält, wird auch Görge von der Dorfbevölkerung verpönt und zum Ausgestoßenen. Die Sänger der beiden wichtigsten Rollen des Abends, Marková und Glueckert, legen große Expertise im Umgang mit ihren Charakteren an den Tag. Die Fähigkeit Markovás, ihrer Doppelrolle Prinzessin/Gertraud unterschiedliche Färbung zu verleihen, ist konkurrenzlos. Doch die Leistung des Frankfurter Opernchores ist nochmal auf einem ganz anderen Niveau. In den drei Abschnitten des Stückes besticht der Chor durch Kraft und hohen Nuancenreichtum. Von der verständnislosen Bevölkerung bis zum aggressiven Mob entspringen die Chorsängerinnen- und Sänger ihrer gräzisierenden Funktion und werden zu einem Darstellerkollektiv höchster expressiver Wirkung – das Bild, in welchem die Revolutionäre Gertraud und Görge umschließen, sicher eines der wirkmächtigsten.

Szenenbild aus „Der Traumgörge“
Szenenbild aus „Der Traumgörge“

Eine Traumwelt des Klangs

Die Entscheidung für eine nüchterne Inszenierung ist verständlich. Die Partitur ist regelrecht ein Effektfeuerwerk im letzten Atemzug des Fin-de-Siècle, bei der ein forderndes und bildgewaltiges Regiekonzept überanstrengen würde. Klanglich ist Zemlinskys Oper zwischen Wagner, Strauss und ein wenig Debussy zu verorten. Mit den circa achtzig Musikern holt der musikalische Leiter des Abends, Markus Poschner, alles heraus, was die Wiener Moderne zu bieten hat, und führt das Frankfurter Publikum fesselnd durch den Abend. Die essenzielle Schwierigkeit des gewaltigen Orchesterapparates ist es, die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne nicht in der gehaltvollen Klangmasse untergehen zu lassen. Denn Zemlinsky webt in sein reichhaltig polyfones Werk sowohl lyrische Instrumente wie Harfe und Celesta als auch Schlagwerk ein und sorgt so für ein mit sehr feiner Harmonienadel gestochenes Klangbild.

Szenenbild aus „Der Traumgörge“
Szenenbild aus „Der Traumgörge“

Eine Geschichte des Vergessens

Am Ende dieser märchenhaften Oper steht die glückliche Rückkehr Görges mit Gertraud in sein Heimatdorf. Er erkennt nun, dass die Prinzessin seiner Träume in Gertraud ihre Verkörperung findet, und auch die Dorfmenschen scheinen geläutert – ein gutes Ende also, das auch in seiner verklärenden Schlusswirkung widerhallt. Das Publikum, fast erschlagen von diesen auf zweieinhalb Stunden ausgedehnten Klangphantasmagorie, guttiert das Ergebnis mit einem soliden und anerkennenden, aber nicht bahnbrechenden Applaus. Man kann trotzdem nur hoffen, dass dieses vor allem musikalisch faszinierende Werk, das erst 1980 posthum uraufgeführt wurde und unter seiner unglücklichen Historie litt, endlich seinen Weg in mehr Häuser findet.

Oper Frankfurt
Zemlinsky: Der Traumgörge

Markus Poschner (Leitung), Tilmann Köhler (Regie), Zsolt Horpácsy (Dramaturgie), Karoly Risz (Bühnenbild), Susanne Uhl (Kostüme), Gal Fefferman (Choreografie), Jan Hartmann (Licht), Tilmann Michael (Chor), Álvaro Corral Matute (Kinderchor), AJ Glueckert, Zuzaná Marková, Magdalena Hinterdobler, Liviu Holender, Juanita Lascarro, Dietrich Volle, Alfred Reiter, Michael Porter, Iain MacNeil, Mikołaj Trąbka, Barbara Zechmeister, Andrew Bidlack, Thomas Schobert, Lars Rößler, Alexey Egorov, Yongchul Lim, Tiina Lönnmark

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