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OPERN-KRITIK: SEMPEROPER DRESDEN – DIE NASE

Ein Riechorgan als Vorgesetzter

(Dresden, 2.7.2022) Altmeister Peter Konwitschny inszeniert Dmitri Schostakowitschs Opernerstling mit gewohnt kompromisslos klarer Haltung und lässt dennoch die geniale Musik Schostakowitschs sprechen.

vonChristian Schmidt,

Die eigene Nase zu verlieren – ohne Schmerz und Blut – heißt, die Identität zu verlieren. Entsprechend verzweifelt rennt der durchschnittliche Petersburger Beamte Kowaljow seiner Nase hinterher, die sich inzwischen als Staatsrat selbstständig gemacht hat und ihm damit vorgesetzt scheint. In seiner Verzweiflung über den unverschuldeten Ausschluss aus der Gesellschaft erntet er nur Hohn und Gleichgültigkeit.

Subversiv-verdächtig

Dmitri Schostakowitsch machte aus Nikolai Gogols Novelle „Die Nase“ 1928 seine erste Oper und stellte sie mit dem kräftigen Selbstbewusstsein eines 22-Jährigen einer nach künstlerischer wie politischer Neuerung dürstenden Gesellschaft zur Diskussion. Doch schon im Rückbezug auf Gogols Geburtsstück des Surrealismus vermuteten die Machthaber nicht zu Unrecht die Flucht vor gerade untypischen Stoffen der sowjetischen Oper und kritisierten an der „Nase“ deshalb auch das Fehlen eines positiven Helden. Schon der Versuch, bürgerliche Stoffe für die Widersprüche der neuen Zeit anzuverwandeln, musste als subversiv-verdächtig gelten. Folgerichtig ging „Die Nase“ auch deswegen ins internationale Repertoire ein, weil sie 44 Jahre das Schicksal der „Lady Macbeth von Mzensk“ teilte, staatlich unterdrückt zu werden.

Von der irrwitzigen Geschichte getriebene Schachfiguren

In Dresden war die Oper zuletzt 1986 in der Regie von Joachim Herz zu sehen. Zeitgleich zu den legendär gewordenen Schostakowitsch-Festtagen im nahen Kurort Gohrisch holte sie Starregisseur Peter Konwitschny nun wieder auf die Bühne der Semperoper. Die teilt sein kongenialer Bühnen- und Kostümbildner Helmut Brade in ein Schachbrettmuster auf, aus dem die einzelnen, filmschnittartigen Szenen mit einem gehörigen Aufwand an Bühnenmaschinerie auf- und wieder abtauchen können. Das ist denn auch der erste Hinweis auf Konwitschnys Lesart des an manchen Stellen schon auf den Dadaismus vorausweisenden Stücks. Denn letztlich sind alle seine Protagonisten Schachfiguren, die von der irrwitzigen Geschichte mehr getrieben sind, als sie selbst voranzutreiben. Allgegenwärtig ist dabei die im Original aus Selbstschutzgründen nur angedeutete Geheimpolizei, die auch dem leisesten Verdacht schon schwerste Konsequenzen folgen lässt, was im weiteren Verlauf sehr stimmig ist.

Auf der Bühne mit Schachbrettmuster können die Darsteller auf- und wieder abtauchen
Auf der Bühne mit Schachbrettmuster können die Darsteller auf- und wieder abtauchen

Funktionierende Rädchen im Getriebe

Bo Skovhus singt und mimt den Entnasten mit geradezu athletischer Atemlosigkeit, wodurch seine wandelbare Stimme allerdings manchmal vom Orchester zugedeckt wird. Sein Kowaljow rennt, tanzt und springt über Hürden, offenbart aber wenig intellektuelle Stärke – eine auch darstellerische Glanzleistung des dänischen Baritons. Ebenso wie die anderen Figuren wirken die Geheimpolizisten, die Schostakowitsch mit irrwitzig hohen Tönen der Lächerlichkeit preisgibt, als höchst passgenaue Rädchen im Getriebe, deren Hauptaufgabe nicht das eigene Denken, sondern das Funktionieren ist. Überhaupt fügen sich die zahlreichen Protagonisten – im Original mehr als 80 Rollen – erschreckend gut in das Porträt einer uniformierten Gesellschaft ein.

Das berühmteste Schlagzeugsolo der Opernliteratur

Schostakowitschs starke ernste Musik zu einer surreal-witzigen Handlung ist vielleicht das erste Zeugnis seiner genialen Künstlerpersönlichkeit. Und er hat einen guten Fürsprecher: Am Pult der Sächsischen Staatskapelle legt deren ehemaliger Kontrabassist Petr Popelka alle Kraft in die Aufgabe, dieser Musik zu ihrem Recht zu verhelfen. Seine einstigen Kollegen luchsen der enorm verzwickten Partitur Großartiges ab: punktgenau brutale Einwürfe, stupende Blechbläser-Glissandi, irrational schnelle Streicherläufe, natürlich auch ein Paradestück für das wohl berühmteste Schlagzeugsolo der Opernliteratur. Wenngleich in der Phonstärke manchmal etwas zu überambitioniert, erzählt Popelka hier mit der Musik, was Schostakowitsch gut verklausuliert messerscharf diagnostiziert hat.

Timothy Oliver (Iwan/Diener) und Bo Skovhus (Platon Kusmitsch Kowaljow) in Schostakowitschs „Die Nase“ an der Semperoper Dresden
Timothy Oliver (Iwan/Diener) und Bo Skovhus (Platon Kusmitsch Kowaljow) in Schostakowitschs „Die Nase“ an der Semperoper Dresden

Von Clownsnasen und echten Riechorganen

Nun ist die Groteske vielleicht das probateste Mittel, um auf eine Welt, die aus den Fugen geraten ist, zu reagieren. Konwitschny reduziert das deutsch vorgetragene Bühnengeschehen also auf ein paar szenenbildnerische Andeutungen, lässt ansonsten Text und die geniale Musik Schostakowitschs sprechen. Seinen Antihelden Kowaljow bemitleidet er nicht, aber er gibt ihn auch nicht der Lächerlichkeit preis: So wie sehr viele Opfer eines despotischen Systems gerät der Beamte eher zufällig in den Fokus der überall Feindlichkeit witternden Staatsräson und trägt als einziger seine natürliche Nase, während alle anderen, selbst die sichtbaren Bühnenarbeiter, rote Clownsnasen haben.

Nur der schnöde Mammon und der Konsumismus regieren

Dieses naheliegende, aber sehr überzeugende Bild vermittelt schnell, dass der Diskurs darüber, was „richtig“ und „normal“ sei, letztlich ebenso zufällig ist wie jede positivistische Ordnung. Konwitschny unterstreicht diesen Aspekt dadurch, dass er die zweite Hälfte des Abends nach einem hinzuerfundenen Selbstmord Kowaljows – quasi als Traum – in ein nicht zufällig blau-gelb grundiertes Himmelsparadies verlegt, wo aber auch selbst Gott, Jesus und Teufel nicht bei der Rehabilitierung zum Menschen helfen können, sondern nur der schnöde Mammon und der Konsumismus regieren. Die Nase kehrt quasi von selbst zurück, aber die wiederhergestellte „Ordnung“ bleibt Behauptung.

Aaron Pegram (Der liebe Gott) und Bo Skovhus (Platon Kusmitsch Kowaljow) in Schostakowitschs „Die Nase“ an der Semperoper Dresden
Aaron Pegram (Der liebe Gott) und Bo Skovhus (Platon Kusmitsch Kowaljow) in Schostakowitschs „Die Nase“ an der Semperoper Dresden

Gar viele Nasen

Natürlich hatte Schostakowitsch mit seinem Opernerstling Gogols Gesellschaftsporträt des zaristischen Russlands in die Sowjetära verlegt, in der sich die Bereitschaft zu Täuschung, Bestechung, Gleichgültigkeit und Brutalität nicht wirklich gewandelt, sondern nur andere Vorzeichen erhalten hat. Konwitschny zieht daraus die Schlussfolgerung, dass diese menschlichen Schwächen trotz anderslautender Suggestion im Wettbewerb der Systeme allgegenwärtig sind. Nicht umsonst ist Schostakowitschs Zitat überliefert: „Die Nase kann ohne dich zu einem Menschen werden, noch dazu zu einem hohen Vorgesetzten. … Heute spazieren so viele Nasen herum, dass man sich nur wundern kann.“

Semperoper Dresden
Schostakowtisch: Die Nase

Petr Popelka (Leitung), Peter Konwitschny (Regie), Helmut Brade (Bühne & Kostüme), Igor Fürnberg (Mitarbeit Bühne), Fabio Antoci (Licht), Kai Weßler (Dramaturgie), Bo Skovhus, Timothy Oliver, Jukka Rasilainen, James Kryshak, Katerina von Bennigsen, Aaron Pegram, Martin-Jan Nijhof, Jürgen Müller, Roxana Incontrera, Alice Rossi, Sabine Brohm, Ludovit Ludha, Gerald Hupach,  Tilmann Rönnebeck, Matthias Henneberg, David Kramer, Sinfoniechor Dresden, Extrachor der Semperoper Dresden, Sächsischer Staatsopernchor Dresden, Sächsische Staatskapelle Dresden

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