Fast wirkt es, als wollte Benjamin Reiners eine besondere Energie in den Saal der Chemnitzer Stadthalle tragen, so federnd spurtet er zum Pult der Robert-Schumann-Philharmonie bei seinem ersten Sinfoniekonzert, noch bevor der 41-Jährige hier zur nächsten Spielzeit sein Amt als neuer Generalmusikdirektor antritt. Mit launigen Worten führt er sich beim Publikum ein und macht damit schnell Pluspunkte in einer Stadt, deren Theatern schon seit 2023 ein musikalischer Chef fehlt. Im Interview spricht er über seine neue Wahlheimat, die kulturelle Verantwortung eines Stadttheaters und die Vorzüge seines Orchesters.
Wie darf man sich den kleinen Jungen vorstellen, der im Ruhrpott zur Kirchenmusik findet? Wie trug sich das zu?
Benjamin Reiners: Das war mehr oder minder ein großer Zufall. Ohne das abwertend zu meinen, komme ich aus einem kulturfernen Elternhaus. Über Umwege kam ich mit vier Jahren zur musikalischen Früherziehung und habe da meine Begeisterung entdeckt. Als kleiner Junge hat mich damals Ende der 80er Jahre die elektronische Orgel am meisten beeindruckt, so dass ich darin wirklich aufgegangen bin. Über die Verbindung meiner Eltern zur Kirche wollte ich dann irgendwann auch die große Orgel spielen und habe mit elf Jahren meine Mutter so lange genervt, bis sie einen Organisten als Ausbilder für mich fand.
Dann kam noch das Klavier dazu, und Sie leiteten schnell Ihren eigenen Chor.
Reiners: Eines ergab das andere. Weil ich in mehreren Kantoreien mitsang und bald auch den riesigen Spielplan der Deutschen Oper am Rhein mit damals über 50 aktiv gepflegten Stücken entdeckte, erarbeitete ich mir ein großes Repertoire in Kirchenmusik wie Opernliteratur. Das hat mich gepackt, und ich wusste, irgendwann will ich auch mal da unten im Orchestergraben stehen. Weil die Orgel aber mein Erstinstrument war und ich nach dem Abitur wohl auch noch keine Aufnahmeprüfung für ein Dirigierstudium bestanden hätte, habe ich dann zuerst Kirchenmusik in Köln mit A-Examen abgeschlossen. Erst danach bin ich nach Detmold gegangen, um in der dortigen Kapellmeisterklasse zu studieren.
Und dann folgte die klassische Kapellmeisterlaufbahn über München, Hannover und Mannheim, wo Sie schnell auch ans Pult durften.
Reiners: Das war wirklich ein großes Glück, dass ich sofort auf einem sehr hohen Niveau einsteigen durfte und an so großen Repertoire-Häusern in verantwortungsvollen Positionen arbeiten konnte.

In Kiel hatten sie dann Ihre erste Stelle als Generalmusikdirektor mit deutlich mehr administrativen Aufgaben. War das der Grund, nach fünf Jahren wieder zu wechseln?
Reiners: Durchaus hatte ich dort mit sehr viel organisatorischen und administrativen Dingen zu tun bis hin zu Budgetfragen. Ich wollte mich aber mehr auf das Künstlerische konzentrieren, und auch wenn ich in Chemnitz durchaus repräsentative Aufgaben wahrzunehmen habe, gibt es hier mehr Freiraum für die musikalische Arbeit.
Die Chemnitzer machen ihre Stadt manchmal selbst gern schlecht. Was war Ihr erster Eindruck?
Reiners: Als Duisburger bin ich ja manches gewöhnt. Im Ruhrpott aufgewachsen, habe ich während meines Mannheimer Engagements in Ludwigshafen gelebt. Zu Städten mit besonderem Charme habe ich also eine Affinität. Aber als ich im September bei strahlendem Spätsommerwetter meine erste Ballettproduktion in Chemnitz gemacht habe, hatte ich schon ausführlich Gelegenheit, diese abwechslungsreiche Stadt kennenzulernen. Da fragte ich mich schon, warum manche so despektierlich darüber sprechen. Ich habe die architektonische Vielfalt und die grüne Umgebung schnell schätzen gelernt. Als Dirigent werde ich alles dafür tun, das Selbstbewusstsein der Chemnitzer zu steigern.
Wie nehmen Sie das Publikum wahr?
Reiners: Als sehr begeisterungsfähig und sehr interessiert. In jeder Stadt, zumal dieser Größe, braucht das Publikum ein Gesicht, mit dem es sich identifizieren kann. Das Musiktheaterprogramm war ja schon in der Vergangenheit sehr vielseitig, da habe ich die große Neugier und Offenheit des Publikums gespürt. Seit Beginn des Kulturhauptstadtjahres nehme ich hier auch deutlich mehr überregionale Gäste wahr. Das merkt man schon im Hotel, das mir noch die eigene Wohnung ersetzen muss.
Hat die Wahl zur Kulturhauptstadt Ihre Entscheidung für Chemnitz beeinflusst?
Reiners: Auf jeden Fall! Hier wird gerade auch in Zeiten der großen Sparsamkeit verstanden, dass jeder in die Kultur investierte Euro dreimal zurückkommt. Und auch die überregionale Aufmerksamkeit ist enorm.
Wie bahnt sich eigentlich so ein Vertrag an?
Reiners: Da gibt es ganz unterschiedliche Wege, die auch damit zu tun haben, wie das Haus verwaltungstechnisch verfasst ist. Hier wurden verschiedene Dirigenten über einen längeren Zeitraum zu verschiedenen Produktionen angefragt, auch für Repertoirevorstellungen. Irgendwann haben dann alle gemerkt, dass unsere gemeinsamen Ideen fruchten und ins Rollen kamen. Dann sprachen mich Intendant und Orchester an.
Was haben Sie sich künstlerisch vorgenommen?
Reiners: Da ich aus der Kirchenmusik komme, ist mir wichtig, dass auch von einem klassisch-romantischen Sinfonieorchester die Barockmusik gepflegt wird. Von Wagners Großwerken fehlt mir noch einiges auf der Repertoireliste, die haben hier ja eine lange Tradition. Als Generalmusikdirektor will ich nicht allein für die schweren sogenannten „Chefstücke“ und schweren Schinken stehen. Dank meiner klassischen Laufbahn vom Korrepetitor bis zum Kapellmeister habe ich sehr viel Repertoire kennengelernt, auch das abseitige, so dass mir eine große Breite immer wichtiger wurde. Ich werde zum Beispiel auch selbst Operette dirigieren. Auch was die äußere Konzertform angeht, werden wir neue Formate ausprobieren, um auch Leute zu gewinnen, die bisher nicht erreicht worden sind.

Wie wollen Sie das schaffen?
Reiners: Wir wollen niedrigschwellige Angebote machen und die Robert-Schumann-Philharmonie mit anderen Kunstformen zusammenbringen, zum Beispiel in Poetry-Slam-Formaten. Neue Orte und Räume wie Clubs oder Jugendzentren kommen dazu. Publikum und Musiker sollen auch in der Stadthalle näher zusammenrücken und sich kennenlernen. Auch bei der Länge und Anfangszeit der Konzerte werden wir Neues wagen. Ohne ein Gemischtwarenladen zu sein, soll die Vielfalt in hoher Qualität geboten werden, wohlüberlegt und doch so breit aufgestellt wie möglich.
Gebietet das die Verantwortung eines Stadttheaters?
Reiners: Im besten Sinne! Wir wollen und müssen für alle da sein. Es liegt auch in unserer Verantwortung, junges Publikum an uns zu binden. Wenn ich daran denke, welche Möglichkeiten ich damals in Duisburg hatte, zum Beispiel im Gymnasium ein Musical zu dirigieren und mich damit sehr früh zu begeistern, bekomme ich Gänsehaut. Denn auch dort gibt es das alles nicht mehr. Die musische Bildung in der Breite schmilzt immer weiter ab. Aber wir können das auch nicht alles ersetzen, sondern nur Angebote unterbreiten. Es macht eben einen riesigen Unterschied, ein Orchester live zu erleben statt nur mit Kopfhörern von der Konserve. Deswegen wollen wir ja auch das Publikum näher an uns „heranlassen“.
Was schätzen Sie denn an der Robert-Schumann-Philharmonie besonders?
Reiners: Dass es hier eine Klangkultur gibt und vor allem ein Bewusstsein dafür, wie wir klingen wollen. Das hat viel mit Tradition zu tun. Hier wird ein sehr hohes Grundniveau angeboten. Ich würde das mal Ethos nennen: jeden Abend aufs Neue von sich aus gut sein wollen. Gleichzeitig aber offen dafür sein, sich auf andere klangliche Vorstellungen einzulassen und neue Stilistiken zu testen.
Wie würden Sie den besonderen Klang beschreiben?
Reiners: Warm, grundtönig, homogen, sehr intonationssicher, mit vielen Schattierungen im Bereich der leisen Töne. Immer wieder erlebe ich ein gemeinsames Ringen um die beste Ausgewogenheit: Das Orchester will das auch selbst ausprobieren. Das macht die Arbeit schön.
In der Vergangenheit gab es in Chemnitz auch immer wieder rare Stücke. Worauf darf man sich diesbezüglich freuen?
Reiners: Für September bereiten wir die Uraufführung von Ludger Vollmers Oper „Rummelplatz“ nach einem tollen Libretto von Jenny Erpenbeck vor, wofür wir sehr dankbar sind. Die anderen Premieren werden eher die Sehnsucht nach bekannterem Repertoire stillen, aber die besondere Farbe, für die Chemnitz steht, wollen wir unbedingt erhalten.
Manche Ihrer Kollegen verzichten auf szenische Umsetzungen und machen Oper lieber konzertant, weil sie dem Regietheater nicht vertrauen. Wie geht’s Ihnen damit?
Reiners: Ich habe vielfältige Erfahrungen mit einigen Größen des Regietheaters, und da kann ich nur sagen: Wenn es klug ist und von musikalischem Sachverstand geprägt, dann lasse ich mich auf vieles ein – und dann macht diese Reise auch sehr viel Spaß. Daher halte ich es für gut, wenn der Dirigent schon vor den Proben mit dem Regieteam zusammenarbeitet, um auf Augenhöhe eine gemeinsame Lesart zu entwickeln. Da lassen sich vorab viele Fehler vermeiden. Mir ist wichtig, dass die Inszenierung etwas mit dem Stück zu tun hat. Von destruierendem Konzepttheater halte ich nichts. Das Schlimmste ist, wenn das Publikum sich auf einen schönen Abend freut, für den es bezahlt hat, und sich dann im Saal ärgert, weil es nicht versteht, was da passiert. Was wir auf die Bühne bringen, muss rezipierbar sein.