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Blickwinkel: Benjamin Appl – Das deutschsprachige Lied als Immaterielles Kulturerbe der UNESCO

„Wir wollen uns keine Urkunde an die Wand hängen“

Bariton Benjamin Appl will gemeinsam mit dem Internationalen Liedzentrum Heidelberg das Kunstlied in deutscher Sprache in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO bringen. Im April soll in erster Instanz über den Antrag entschieden werden.

vonSusanne Bánhidai,

Was gab den Stein des Anstoßes, das deutschsprachige Lied zum Immateriellen Kulturerbe der UNESCO zu machen?

Benjamin Appl: Ich war vor einigen Jahren auf einer Tournee in Indien. Das Goethe-Institut hatte in Bombay ein Festival organisiert, bei dem indische und deutsche Dichter zusammen kamen und gegenseitig ihre Gedichte übersetzten und interpretierten. Auch Liederabende gehörten zum Programm. Dort lernte ich Karin von Welck kennen, die ehemalige Kultursenatorin von Hamburg, die anschließend für die UNESCO tätig war. In gemeinsamen Gesprächen hat sie mich zu dieser Initiative inspiriert und mich unterstützt. 2017 startete ich sehr kurzfristig schon einen ersten Anlauf, mir wurde aber geraten, den Antrag breiter aufzustellen und eine Trägergruppe zu finden.

Wer gehört noch zu den Akteuren?

Appl: Thorsten Schmidt, der Intendant vom Heidelberger Frühling, hatte fast zeitgleich die Idee. Das Internationale Liedzentrum Heidelberg, das 2016 gegründet wurde, bot sich als Partner geradezu an. Entscheidend dafür, um auf die Liste des Immateriellen Kulturerbes zu kommen, ist die Tatsache, ob das Kulturgut noch gepflegt und weiterentwickelt wird. Um diese Präsenz zu belegen, haben wir eine Initiatorengruppe aus professionellen Sängerinnen und Sängern und Laien, Liedbegleitern, Komponisten wie z. B. György Kurtag und Veranstaltern gebildet. Auch das Deutsche Literaturarchiv Marbach, die Rektorenkonferenz der Musikhochschulen in Deutschland sowie alle 16 Landesmusikräte konnten wir hierfür gewinnen.

Auf dieser bundesweiten Liste des Immateriellen Kulturerbes befindet sich schon viel „Sängerisches“ und „Sprachliches“: Knabenchöre, die Chormusik in deutschen Amateurchören, das Märchenerzählen …

Appl: … das Singen der Lieder der deutschen Arbeiterbewegung und die ostfriesische Teekultur. Es ist eine sehr interessante Liste!

Warum soll das deutschsprachige Lied noch explizit mit aufgenommen werden?

Appl: Wir hoffen natürlich, dass unser Antrag auf Bundesebene erfolgreich ist. Das große Ziel ist aber, das Lied auf die Internationale Liste des UNESCO-Kulturerbes zu bringen. Dafür brauchen wir Geduld. Der Antrag liegt momentan in Baden-Württemberg im Ministerium. Vermutlich im April wird darüber entschieden, ob das Kunstlied die nächste bundesweite Hürde nehmen wird. Bis alle beteiligten Gremien darüber beraten haben und das deutschsprachige Lied hoffentlich auf die Liste des immateriellen Kulturerbes der UNESCO kommt, vergehen nochmals zwei, drei Jahre.

Was ist mit den anderen Liedtraditionen wie dem französischen Lied oder den englischen Volksliedern, die sehr kunstvoll eingerichtet sind oder der osteuropäischen Tradition des Liedes?

Appl: Es gab vor einigen Jahren bei der UNESCO einen Antrag für das europäisches Kunstlied, der abgelehnt wurde, weil er nicht spezifisch genug war. Wir konzentrieren uns auch deswegen auf das deutschsprachige Kunstlied. Aber vor allem, weil Lieder wie die von Franz Schubert eine Inspirationsquelle für andere Komponisten waren und sind. Die meisten Kunstlieder aus anderen Kulturen entwickelten sich später, haben selbstverständlich ihre eigenen Schönheiten und Handschriften entfaltet, beziehen sich jedoch häufig auf die deutschsprachige Variante des emanzipierten Klavierliedes. Es ist ein Ideal, auf das man blickt.

Das klingt sehr überzeugt. Haben Sie keine Angst vor dem Verdacht einer nationalen Überheblichkeit?

Appl: Ich benutze das Wort „stolz“ sehr selten. In diesem Zusammenhang finde ich aber, dass wir wirklich stolz sein können auf diese Verschmelzung zweier Kunstformen in einer. Das wird im Ausland sehr bewundert. Wir sind uns gar nicht bewusst, was für ein Schatz das deutsche Kunstlied ist. International wird es anders wahrgenommen: tatsächlich positiver als viele andere Traditionen deutschen Kulturerbes! Nicht nur in England oder den USA ist das deutschsprachige Kunstlied etwas Besonderes, es besitzt eine weltweite Strahlkraft. Die Nationalsozialisten wollten das Kunstlied für sich selbst „einverleiben“, genau das Gegenteil ist passiert: Durch die erzwungene Emigration vieler Musiker und Komponisten wurde es in die ganze Welt getragen. Spätestens seitdem gehört das deutschsprachige Kunstlied der ganzen Welt.

Also ist das Kunstlied auch eine Art Botschafter für ein positiv besetztes Bild von deutscher Kultur, das nach 1945 gehörig in Frage gestellt wurde?

Appl: Auf alle Fälle. Mich beeindruckt immer noch die Tatsache, dass eine englische Sopranistin während der Luftangriffe der Deutschen auf London in der Nationalgalerie Lieder von Schubert und Schumann gesungen hat. Ich erinnere mich auch an Dietrich Fischer-Dieskau, der erzählte, dass das Publikum in der Carnegie Hall in New York die Lippen mitbewegt hat, als er die „Winterreise“ sang. Viele jüdische Auswanderer kamen in Liederabende und waren zu Tränen gerührt, weil sie die Lieder und die Texte an ihre verlorene Heimat erinnerten. Eine unserer Ideen ist es daher, dieser Kunstform – ähnlich wie damals in Bombay – auf internationaler Ebene zu begegnen und das Kunstlied, zum Beispiel in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut, an Orte zu tragen, an denen nicht nur die bisherigen Kunstlied-Liebhaber zusammen kommen.

Ist es nicht sehr ambitioniert, ausgerechnet mit dieser intimen Gattung einen völkerverständigenden Effekt zu erzielen?

Appl: Klar, wir sind eine Blase in der kleinen Klassik-Blase. Als Liedsänger machen wir es uns manchmal unnötig schwer, indem wir den intellektuellen Gehalt der Lieder in den Vordergrund rücken. Viele Menschen sind von zuviel Text abgeschreckt, den sie meinen, nicht verstehen zu können. Dabei geht es beim Lied immer um Emotionen, die alle im 21. Jahrhundert noch sehr präsent sind: Verliebtsein, Sehnsüchte, Verlustängste. Inhalte, die man in der populären Musikszene genauso findet wie in unserer Kunstform. Das ist auch wichtig in der Vermittlung. Ich träume sogar von generationsübergreifenden Projekten in Schulen und Seniorenheimen, die partizipativ sein sollen. Uns ist wichtig, dass der Listeneintrag keine Urkunde ist, die man sich an die Wand hängt. Wir wollen den Titel „Immaterielles Kulturerbe” mit Leben füllen.

Während der Lockdown-Phasen hat der Liederabend ja sogar eine kleine Renaissance erfahren, weil er mit den Hygienevorschriften leichter zu vereinbaren war als ein großes Orchesterkonzert …

Appl: Selbstverständlich gab es den einen oder anderen Kollegen, der bisher nur Oper gemacht und den Liederabend bis dato belächelt hat. Da gab es schon einige „Bekehrte“, die sich da eher unvermittelt dem Lied zuwandten. Ich hoffe sehr, dass das nach der Pandemie so weitergeht!

Beim deutschen Kunstlied denkt jeder sofort an die „Winterreise“, ein Meilenstein für jeden Liedsänger. Wie sie selber mal bemerkt haben, hat Dietrich Fischer-Dieskau – DER Lied-Interpret des 20. Jahrhunderts und ihr Lehrer – das Werk zehn Mal eingesungen. Wie viele Fassungen planen Sie?

Appl: Es gibt so viele dezidierte Meinungen über diesen Zyklus. Ich habe das Werk in den letzten zwölf Jahren vielleicht fünfzig oder sechzig Mal in Konzerten gesungen. Was mich fasziniert und auch Fischer-Dieskau angetrieben hat, waren die Fragen, die das Werk aufwirft. Es gibt im Text vielfach nur Andeutungen. Wenn man es singt, gelangt man bei jedem Akkord, jedem Wort an eine Weggabelung, wo man sich entscheiden muss, wohin man geht. So wird jede Aufführung – und auch jede Aufnahme – anders. Mein Album aus dem November 2021 ist eine Bestandsaufnahme aus dem letzten Herbst. Mehr erstmal nicht.

Warum haben Sie für Ihre Aufnahme eine Kirche ausgewählt?

Appl: In England ist man mit Aufnahmestudios nicht gerade verwöhnt und sucht deshalb nach neuen Orten. Die Kirche gefiel mir sehr.

Weil das Werk an sich auch etwas Sakrales hat?

Appl: So würde ich das nicht sagen. Es gibt vielleicht eine übernatürliche Dimension in manchen Liedern, die man beleuchten muss. Nicht nur in der „Winterreise“. Manche Liederabende haben etwas Mystisches, weil es sehr um Emotionen geht, die nicht eindeutig sind. Man muss für jede Phrase und für jedes Wort eine Emotion finden. Man muss sich – wie bei einer Hausaufgabe – mit der Partitur hinsetzen und sich mit der Musik emotional verbinden. Ich hatte noch nie Todessehnsucht in meinem Leben, da muss ich ein Substitut finden, eine Emotion, die dem nahe kommt. Dann kann ich diese auch senden und weiß dennoch nicht, wie das von den Menschen im Publikum empfangen wird. Das ist eine Art Magie. Nicht heilig, aber erhebend.

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