Woher kam die Idee zur Initiierung eines Festivals für jüdische Musik?
Marie Babette Nierenz: Die Initialzündung war tatsächlich der brutale Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Das hat mich damals sehr bewegt. Ich stellte mir die Frage: Was wissen wir eigentlich über jüdische Kultur und Musik? In unseren Programmen ist Weltmusik vielfältig vertreten, aber jüdische Musik – ob klassisch, traditionell oder volkstümlich – ist selten zu hören. Gemeinsam mit Diana Matut entstand so die Idee, ein interdisziplinäres Festival auf die Beine zu stellen. Unser Ziel war dabei, die jüdische Musik in ihrer ganzen Vielfalt und Schönheit zu zeigen – nicht nur im politischen Kontext.
„Tikwah“ bedeutet Hoffnung. Welche Hoffnung verkörpert das Festival?
Diana Matut: Es soll ein Fest der Begegnung werden. Wir wünschen uns, dass die Menschen aus den Konzerten gehen und überrascht sind, wie vielfältig jüdische Musik tatsächlich ist. Und dass sie jüdische Musik als ein menschliches Kulturgut erfahren können – etwas, das weit über eine bestimmte Religion oder Ethnie hinausgeht. Oft beschränkt sich das Bild noch sehr auf ein paar Namen wie Mendelssohn oder auf Klezmer – und dann hört es meist schon auf.
Der Begriff der „jüdischen Musik“ soll dabei auch kritisch hinterfragt werden.
Matut: Es gibt unzählige Definitionen dessen, was jüdische Musik ist, und manche davon sind sehr eng gefasst. Wir aber denken inklusiv und lassen alle Formen jüdischer Musik zu. Wichtig ist auch, dass diese Vielfalt nebeneinander bestehen kann, ohne hierarchisiert zu werden.
Nierenz: Genau daran schließt auch die Konzeption des Festivals an: Wir schaffen keine isolierte Veranstaltungswoche oder Ähnliches, sondern integrieren jüdische Musik auf Augenhöhe in die regulären Konzertreihen der Synagoge, der Philharmonie, der Lichtburg, des Schauspiel- und Theaterprogramms. Wir setzen jüdische Musik nicht nur als kleine Zugabe ein, sondern als Hauptwerke, die neben Beethoven, Prokofjew oder Schönberg stehen.
Inwiefern zielt das Programm darauf ab, nicht nur jüdische Musik, sondern die jüdische Kultur insgesamt näherzubringen?
Nierenz: Das Feld jüdischer Kultur, das wir mit dem Festival abbilden, ist sehr weit gefasst. Ein Beispiel dafür ist unsere erstmalige Kooperation mit dem Politischen Forum Ruhr, das eine große Diskussion zur Gegenwart jüdischer Kultur in Europa organisiert. Wir gehen außerdem in Schulen, veranstalten Ferien- und Musikworkshops und ermöglichen jungen Menschen so den direkten Zugang zur jüdischen Kultur. Zusammen mit dem Schauspiel Essen und der israelischen Regisseurin Sapir Heller werden Geschichten vertriebener jüdischer Menschen theatral aufbereitet. Wir entdecken bestehende Stolpersteine in der Stadt und setzen auch neue, um die Erinnerungskultur lebendig zu halten.
Matut: Daneben gibt es auch leichtere, zugängliche Formate: Konzerteinführungen, Gesprächsabende zu jüdischer Oper. Und wir feiern natürlich auch das fröhliche jüdische Leben: Zum Beispiel den Purimball. Das Purimfest ist das ausgelassenste Fest des jüdischen Kalenders mit Verkleidung, Tanz und Musik. Wir feiern gemeinsam mit der jüdischen Gemeinde in der Alten Synagoge, das Fest ist offen für alle.
Die Welt steht derzeit Kopf. Lahav Shani, der auch beim Tikwah-Festival zu Gast ist, wurde in Gent ausgeladen. Wie positioniert sich das Festival angesichts der komplizierten politischen Situation rund um das Thema Israel?
Nierenz: Nach meiner Wahrnehmung könnte der Zeitpunkt, genau jetzt ein Festival für jüdische Musik zu gründen, kaum idealer sein. Wir erleben aktuell, wie problematisch es ist, wenn Kunst instrumentalisiert wird. Ein Kulturboykott, der Musiker aufgrund ihrer Herkunft ausschließt oder sie zu politischen Bekenntnissen zwingt, widerspricht unserer Verfassung und unserem Verständnis von Kunstfreiheit. Musik lebt vom Austausch, nicht von Abgrenzung. Und natürlich verleiht die Ausladung von Lahav Shani unserer Arbeit zusätzliche Brisanz und Bedeutung.
Matut: Unser Festival versteht jüdische Musik grundsätzlich als eine Musik, die immer im Dialog mit ihrer Umgebung stand – geprägt von Europa, Amerika, vom arabischen Raum. Sie trägt die ganze Welt in sich. Das macht sie zu einem Medium des Brückenbaus. Natürlich ist Versöhnung ein langer Prozess. Aber gerade darin liegt die Kraft der Musik: Sie kann kleine, aber entscheidende Impulse setzen.
Nierenz: Besonders bewegend in diesem Zusammenhang ist für mich ein Format, das wir gemeinsam mit Mitgliedern des Israel Philharmonic Orchestra gestalten: Jüdische und arabische Musiker treten nach dem Konzert im kleinen Rahmen zusammen auf – gemeinsam mit Igor Levit am Klavier. Es ist wie ein musikalisches Wohnzimmer der Versöhnung. Diese Bereitschaft, Brücken zu bauen, ist gerade in der aktuellen Lage nicht selbstverständlich. Umso mehr zeigt es, welche Verantwortung viele Künstlerinnen und Künstler heute bewusst übernehmen.