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Blind gehört Simone Kermes

„Er singt das wie einen Schlager“

Die Sopranistin Simone Kermes hört CDs von Kolleginnen, ohne dass sie erfährt, wer singt

vonKlemens Hippel,

Mit Simone Kermes Musik zu hören, ist das reine Vergnügen. Die Leipzigerin, die zu den gefragtesten Sopranistinnen im dramatischen Koloraturfach gehört, nimmt kein Blatt vor den Mund, auch nicht in den heiligen Hallen der Berliner Philharmonie, wo wir uns treffen.

Sartorio: „Orfeo, tu dormi“ aus „Orfeo“

Patricia Petibon (Sopran)

Venice Baroque Orchestra

Andrea Marcon (Leitung) 2009

Deutsche Grammophon

Ist das Roberta Invernizzi? Mit Monteverdi? Sartorio – das muss ich erst mal hören. Das kenne ich nicht. Nuria Rial ist es nicht. Die Petibon? Das hätte ich nicht gedacht. Etwa mit Venice Baroque? Die erkenne ich gar nicht wieder, obwohl ich viel mit ihnen gemacht habe. Ich bin enttäuscht, dass ich den Ivano nicht höre an der Laute. Ivano, wo bist du? Ivano Zanenghi ist ein herausragender Lautenist – aber hier spielt er nicht mit. Sonst käme mehr von der Laute. So ein Stück lebt davon, dass die Laute improvisiert. Aber es ist schöne Musik und mit viel Ausdruck gesungen. Die Platte kenne ich nicht, aber ich weiß, dass sie eine Arie aufgenommen haben, die wir auch gemacht haben: Morte amara. Die muss ihnen gefallen haben – Claudio Osele hatte ja die Noten entdeckt.

Porpora: „Morte amara“ aus „Lucio Papirio“

Patricia Petibon (Sopran)

Venice Baroque Orchestra

Andrea Marcon (Leitung) 2009

Deutsche Grammophon

Zum Beispiel hier am Anfang steht in den Noten natürlich kein Schwellton – in den Partituren dieser Zeit gibt es ja keine Vortragsbezeichnungen. Das habe ich so gemacht. Und sie macht das auch. Da ist man natürlich geschmeichelt. (lacht) Aber auch hier fehlt mir der Ivano. Er ist einer der expressivsten und auch showmäßigsten Lautenisten. Und das vermisse ich ein bisschen. Das klingt mir zu sehr nach Vivaldi. Das Stück gehört aber zur neapolitanischen Schule – das hier hat mir zu wenig Tiefe und ist auch zu schnell. Für diese Tiefe würde man ein langsameres Tempo brauchen. Diese Arie kenne ich nun wirklich. Es geht um den Tod, den süßen Tod, und davon höre ich nichts. Aber eigentlich ist Venice Baroque auch nicht zu Hause in dieser Musik.

Händel: „Care selve“ aus „Atlanta“

Leontyne Price (Sopran), David Garvey (Klavier) 1965

aus: Leontyne Price rediscoveredRCA

Das ist jedenfalls eine ziemlich alte Aufnahme. Eine Barockarie mit Klavier. Man hört, dass es Händel ist, aber das Stück kenne ich nicht. Aus Atalanta? Das habe ich noch nicht gemacht. Ich finde es sehr angestrengt gesungen. Die Stimme ist expressiv, es wird mit Ausdruck musiziert, aber vom Stil her könnte das auch etwas anderes als Händel sein. Da hat sich viel getan seitdem. Lernen kann man von so einer Aufnahme heute nichts mehr. Man hat das früher eben so gesungen – dann kam Harnoncourt, und man hat es anders gemacht. Zum Glück! Jetzt ist dieser Stil normal geworden und wir regen uns über so etwas auf. Es gibt schon Sängerinnen, die heute noch Händel mit Klavier machen. Für Arien­abende, das ist die billige Version. (lacht) Ich hab auch mal, in Barcelona, eine Händelarie auf einem Liederabend mit Klavier gemacht. Das ist schwieriger als mit Orchester. Das Klavier ist ja in 440 Hertz oder höher gestimmt, und Händel muss man eher in 415 machen. Dann ist er einfacher und klingt nicht so angestrengt. Für Vivaldi und anderes Barockrepertoire kann man ruhig 440 nehmen.

Strauss: „Beim Schlafengehen“

aus „Vier letzte Lieder“

Renée Fleming (Sopran)

Münchner Philharmoniker

Christian Thielemann (Leitung) 2008

Decca

Das ist aber sehr schnell. Ist das die Schwartzkopf? Die soll ja eine ganz tolle Aufnahme der Vier letzten Lieder gemacht haben. Nicht? Ich muss sagen, ich habe da das Ideal von Gundula Janowitz und Karajan. Die finde ich absolut schön und tief. Viel langsamer, auch stimmlich mit mehr Tiefe. Mit sehr glatt geführter Stimme und natürlich. Aber bei Strauss scheiden sich die Geschmäcker. Das hier ist eine sehr dramatische Stimme – die singt bestimmt auch das ganze fette Strauss-Repertoire und Wagner. Ich finde die Stimme jedenfalls sehr dramatisch und dunkel. Das war sehr schön hier – aber es hat auch manche Manierismen. Es könnte sowohl dreißig Jahre alt als auch ganz neu sein. Verglichen mit Karajan klingt es viel weniger modern. Was Karajan da im Orchester gemacht hat. Und was er von der Janowitz verlangt hat! Da reicht es für mich nicht ran. Wenn ich‘s selber mache, muss es mit Darmsaiten sein. Das wünsche ich mir. Die haben doch damals auch mit Darmsaiten gespielt! Das wäre doch mal interessant. Das war Renée Fleming? Die ist eine Schülerin von der Schwartzkopf! Deshalb höre ich da diesen Klang.

Monteverdi: „Si dolce è’l tormento“

Marco Beasley (Tenor)

Accordone 2003

aus: La Bella Noeva. Alpha

Das ist ein schönes Lied! (singt mit) (Einsatz des Tenors) Das ist ein Popsänger – Angelo Branduardi oder so. Jetzt weiß ich, (lacht) das ist ein Neapolitaner, Marco Beasley. Aber er singt das nicht wie ein klassischer Sänger. Er ist ein wunderbarer Showtyp, stellt sich auf die Kanzel und macht so richtig Stimmung, aber die Stimme ist ein bisschen Crossover. Sehr natürlich, natürlich. Und er ist erfolgreich. So was kommt gut an bei den Leuten. Aber für mich ist das keine Klassik, das ist kein klassischer Sänger. Ihm fehlt die Technik, er singt das wie einen Schlager.

Händel: „Ahi, nelle sorte umane“ aus „Arcadian Duets“

Natalie Dessay (Sopran)

Véronique Gens (Sopran)

Le Concert d’astree

Emmanuelle Haim (Leitung) 2002

Virgin Classics

Die Stimmen gefallen mir sehr gut! Zwei Sängerinnen aus der Alten Musik. Sie klingen sehr natürlich, passen sehr gut zusammen und mischen sich gut. Da hört man gern zu. Es ist wichtig, dass im Duett oder Terzett die Stimmen passen, die gleiche Technik und den gleichen Geschmack haben. Sonst ist es ein Grauen für die Zuhörer und für die Musiker. Das sind jedenfalls ausgebildete klassische Stimmen, die mit dem ganzen Körper singen und ihre Stimmen glatt führen können, nicht so opernmäßig. Und es ist auch ein schönes Stück. Händel? Aber ein früher Händel. Da schrieb er noch mehr polyphon. Ich habe so viel Händel gemacht, aber das nicht.

Mozart: „Porgi amor“ aus „Le Nozze di Figaro“

Lisa della Casa (Sopran)

Wiener Philharmoniker

Erich Kleiber (Leitung) 1959

Decca

Das sind jedenfalls keine Originalinstrumente. Und das ist ein sehr schweres Stück, das war fies von Mozart: Man kommt auf die Bühne und muss damit anfangen. Die Susanna ist sowieso der attraktivere Part und nicht ganz so schwer. Das ist aber die Schwartzkopf. Auch nicht? Ich höre zu wenig – aber Moment, ist das Lisa della Casa? Die ist nämlich toll und war immer mein Vorbild. Ich habe in der Hochschule gelernt: Das ist der Gräfinnen-Klang. So muss sie klingen. Obwohl man ja eigentlich keinen Unterschied hören darf zwischen der Gräfin und Susanna im Duett – dann ist es toll. Aber das hier war gerade ein bisschen unsauber – die Klangfarbe ist schön, aber manches stimmt nicht ganz. Das war eine andere Zeit.

Vivaldi: „Dopo un’orrido pracella“ aus „Griselda“

Simone Kermes (Sopran)

Ensemble Matheus

Jean-Christophe Spinosi (Leitung) 2005

Naive

Das ist Vivaldi – das bin ich! (lacht) Das ist eine tolle Arie. Und sie ist so schwer wie sie klingt – das ist ja keine Sopranlage mehr, das Stück reicht über mehr als drei Oktaven. Aber sie ist nicht die schwerste Arie, an der zweiten entscheidet sich, soll ich‘s machen oder nicht. Die ist noch tiefer und hat Triolen. Diese dritte Arie habe ich gerade erst wieder gesungen. Ich mache das immer mal als Zugabe. Jetzt ist es easy, damals nicht: Die Verzierungen musste ich an einem Tag lernen, das war stressig. Und am Ende ist es mir ein bisschen viel, das würde ich jetzt nicht mehr machen. Die Hörner sind auch schwer – die hatten Angst. Ich erinnere mich sehr gut an diese Aufnahme, die wir in Brest gemacht haben. Nachts um drei. Ein paar Sänger waren krank und wir haben die Rezitative mit Philippe Jaroussky und noch einer Sängerin zu dritt gemacht – die fehlenden Teile wurden später eingefügt. Das war eine Katastrophe, erstaunlich, dass die Aufnahme trotzdem so toll geworden ist. Ich hatte damals überlegt, ob ich diese Partie machen soll, die Bartoli hat das ja gesungen. Ich habe Jaroussky damals gesagt: Das musst du singen, das ist ja die Kastraten-Partie. Aber er meinte, er kann das nicht. Und ich hatte so etwas vorher nie gemacht, sondern immer nur Frauenrollen gesungen. Dann hatten wir ein Konzert, und alle haben gesagt: Ziehst du eine Hose an? Und ich: Nee, wieso? Ich hab noch nie eine Hose angezogen im Konzert.

Album Cover für
Colori d‘Amore
Simone Kermes (Sopran), Le Musiche Nove, Claudio Osele (Leitung)
Werke von Bononcini, Caldara, Scarlatti & Matteis. Sony Classical

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