Soll man Bachs „Matthäus-Passion“ als pralles Bibeldrama voller opernhafter Affekte auffassen – und aufführen? Oder lässt sich sein am größten und längsten dimensioniertes Sakralwerk nicht auch als nuancenreich feinsinnige Bibelmeditation begreifen, die weit mehr zart ausgehörte und uns berührende Pianissimi enthält als volkszornige Turba-Chöre im XXL-Format? Der Münchener Bach-Chor hat in seiner nun 70-jährigen Historie viele Interpretationswege beschritten, stand unter seinem Gründer Karl Richter seit 1954 zunächst lange Jahre in der Tradition der romantischen Bach-Pflege. Seit der Saison 2023/24 leitet Johanna Soller den legendären Chor sowie das Münchener Bach-Orchester, das sie zu einem Spezialensemble der historisch-informierten Aufführungspraxis formte. Am Karfreitag debütierten Chor und Orchester unter ihren neuen Maestra mit der „Matthäus-Passion“ in der Isarphilharmonie, die der Münchner-Klassikszene als Langzeitersatz für den geschlossenen Gasteig dient.
Johanna Soller entlockt der „Matthäus-Passion“ unerhörte Zwischentöne
Der dunkel, gräuliche Saal mit dem staubtrockenen Minimalnachhall ist nun alles andere als eine anheimelnde Klangkathedrale. Dafür lässt sich Bachs wortgezeugte geistliche Musik um das Leiden und Sterben des Gottessohns hier gleichsam genuin protestantisch deuten. Harnoncourts Klangrede – hier wird sie Ereignis. Johanna Soller macht aus der Not der Akustik-Bedingungen nicht nur eine Tugend bislang unerhörter orchestraler Zwischentöne, vokaler Farb- und Dynamikdifferenzierungen und flüssiger, auf natürliche Weise richtiger Tempi: Sie bewirkt nachgerade das Wunder einer Intensivierung durch Zurücknahme. Pastelltönend kontemplativ geht sie gleich den Eingangschor „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“ an. Den auswendig gesungenen Choral „Wenn ich einmal soll scheiden“ nimmt sie in ein der Welt entrücktes Piano-Pianissimo zurück. Die dramaturgische Disposition mit ihrem Wechsel aus Evangelistentext, Jesu-Worten, Arien, Chören und Chorälen entwickelt sie mit der überlegenen Stringenz der ruhigen Kraft.
Das Ensemble der Gesangsolisten wird vom derzeit wohl weltbesten Evangelistentenor, Daniel Johannsen, angeführt. Er wird zum Chronisten einer kühnen, aufwühlenden, berührenden christlichen Botschaft, wägt wissend die Worte, setzt seinen flexiblen Tenor mit theologischer Durchdringung ein. Wenn er in die nachfolgende Rede Jesu einführt – er „betete und sprach“, dann werden die unterschiedlichen Adressaten deutlich: das Beten ganz nach Innen zum Vater, das Sprechen indes an seine Jünger gerichtet. Konstantin Krimmel gibt Jesus baritonbalsamisch milde als Fürst des Friedens, der nur einmal in der Anrufung Gottes, „dass dieser Kelche von mir gehe“, ein kurzes menschliches Aufbegehren gegen sein vorgezeichnetes Schicksal wagt.
Isarphilharmonie
J. S. Bach: Matthäus-Passion
Johanna Soller (Leitung), Flore Van Meerssche, Margot Oitzinger, Daniel Johannsen, Magnus Dietrich, Konstantin Krimmel, Äneas Humm, Münchner Knabenchor, Münchener Bach-Chor, Münchener Bach-Orchester