Als Tommaso Traetta 1779 im Alter von nur 52 Jahren starb, hatte er ein bewegtes Komponistenleben in europäischen Musikzentren und Russland hinter sich. Er reizte die spätreife Gattung der Opera seria aus. Dazu war Traetta wie Johann Christian Bach mit riesigen Ariengebilden und wie Gluck mit dramatischer Verdichtung der Rezitative eine Steilvorlage für Mozart. Dass die 49. Innsbrucker Festwochen der Alten Musik nach seinem lateinischen Oratorium „Rex Salomon“ 2023 eine Traetta-Oper herausbrachten, müsste nach vereinzelten Vorstößen mit dessen „Antigona“ endlich zum Impuls für eine breitere Traetta-Renaissance werden.
Zweimal „Ifigenia“ in Innsbruck
Neben Vivaldis „Il Giustino“ mit Absolventinnen und Absolventen des festivaleigenen Cesti-Wettbewerbs setzte man „Ifigenia in Aulide“ von Antonio Caldara (Wien 1716) und Traettas ein Jahr nach Glucks „Orfeo“ uraufgeführte „Ifigenia in Tauride“ (Wien 1763) als Doppel ohne konzeptionelle Verknüpfungen. Mehr als sechzig Vertonungen der beiden „Iphigenie“-Stoffe über die vor Beginn des Trojanischen Krieges als Opfer bestimmte Agamemnon-Tochter und deren späteres Leben als Priesterin in Thrazien entstanden bis zur Französischen Revolution.
In Innsbruck entschied man sich für zwei Funde, welche die Handlungsvielfalt von Barockopern trotz einer schematisierten Librettistik bestätigen. Bei Caldara wird anstelle Ifigenias die vom Schicksal benachteiligte Elisena geopfert, was Companyia Per Poc mit Puppen löste und Festspielleiter Ottavio Dantone nach einer eigenen Edition mit Accademia Bizantina eloquent gestaltete.

Dramatischer als Goethe und Gluck
Unter dem Festspiel-Motto „Wer hält die Fäden in der Hand?“ endet auch Marco Coltellinis Libretto für Traettas „Ifigenia in Tauride“. Erstmals am 3. Oktober 1763 im Hoftheater Schönbrunn ermordete die Artemis-Priesterin nicht ihre Vertraute Dori und auch nicht ihren Bruder Orest, der im Auftrag des delphischen Orakels das heilige Artemis-Bild von Thrakien nach Hellas bringen soll. Todesopfer der verzweifelten und zutiefst gedemütigten Ifigenia ist bei Traetta der Thraker-König Toante.
Was Traetta bis dahin an psychischen Blessuren und menschlichen Herausforderungen ausbreitet, findet sich wenige Jahre später in anderer Gewichtung auch in Goethes Schauspiel „Iphigenie auf Tauris“ und Glucks Oper „Iphigénie en Tauride“. Bei Goethe versöhnen sich alle, bei Gluck spricht die Göttin Artemis ein klärendes Machtwort. Bei Traetta aber verheißt die sich gegen Übergriffe wehrende Attentäterin Ifigenia den Thrakern Migration und eine neue, freundlichere Heimat.

Vokale Seelenkrimis
Bis dahin reiht Traetta in Arienform einen Seelenkrimi an den nächsten. Jede der fünf Partien wird kantabel, deklamatorisch und – das ist anders als fünfzig Jahre früher bei Händel und Bach – energetisch massiv gefordert. Traettas Oper reiht lange vor der frenetischen Romantik affektive Exzesse. Die Instrumentation ist farbenreich, trägt und fordert die Stimmen. Christophe Rousset und Les Talens Lyriques generieren im Tiroler Landestheater daraus eine Kette luzider Reize und prachtvoller Details. Empfindsamkeit, das epochale Ideal des späten 18. Jahrhunderts, und Virtuosität sind hier keine Gegensätze.
Allenfalls Suzanne Jerosme als Pilade tritt etwas zurück, weil Traetta und Coltellini die oft schwul interpretierte Freundschaft mit Oreste etwas vernachlässigen. Rocío Pérez gestaltet die Titelpartie mit Wechseln von pfeilscharfen zu betörenden Koloraturketten, setzt mehrfach faszinierende Übergangsmanöver zu fast bellinihaften Kantilenen. Die tückischen Herausforderungen Traettas meistern Pérez und das ganze Ensemble bravourös. Fast gleichrangig mit Ifigenia agiert Karolina Bengtsson als Dori, die wirklich alles einsetzt und – mit Ausnahme einer wunderschönen Arie in der Stückmitte – leer ausgeht. Nach Teilnahme am Innsbrucker Cesti-Wettbewerb 2018 gestaltet der Countertenor Rafał Tomkowicz eine Hauptpartie. Orestes Gewissensqualen über den Muttermord singt Tomkowicz sicher, markant und mit kräftiger Profilierung.
Luxuriöser Kontrast dazu ist Alasdair Kent als toxischer Despot Toante. Er wuchtet sich mit Blicken, demagogischer Energie und dem ganzen Körper auf die von ihm als Luxuswild betrachtete Priesterin Ifigenia. Wenn diese ihn niedersticht, beendet das eine Kette infamer Zusetzungen. Kent singt einen verantwortungslosen Youngster, macht sich damit zum belcantesken Erfüllungsgehilfen Traettas und zeigt die wilde Ambivalenz dieser Musik. Das Premierenpublikum war vom Ensemble und NovoCanto im ziemlich großen Chorpart begeistert.

Sehr viele Diskursstränge
Die Regieteams der beiden Innsbrucker „Ifigenia“-Opern agierten unabhängig voneinander. Von der Meereswogen-Projektion auf den schwarzen Raumkasten bis zu Ifigenias Rache- und Notwehr-Attentat legen Nicola Raab und Madeleine Boyd gleich mehrere Diskursstränge über Traettas Opera seria. Teils posieren Ifigenia und Toante in feudalen Edelkostümen auf der Bühne eines Mehrzwecksaals und zelebrieren ihre Dispute wie ein Drama. Teils tritt NovoCanto Aufstellung an wie zu einem Konzert und wird am Ende zu einem dunklen Haufen Migrierender.
Oreste betreibt Beutekunst-Piraterie in einem mit Dekorationen und Rahmen gefüllten Depot und Ifigenia wechselt in mehrere Typologien selbstbewusster Fraulichkeit. Der mit rebellisch ausholender Melodik die formalen Standards der Opera seria sprengende Traetta erfährt so eine visuelle Spiegelung, ohne dass deren Stränge zu einem sinnstiftenden Ende führen. Die Vielfalt szenischer Ideen ist auf höherer Ebene kongruent zum genialischen Grenzgang und melodiösen Überschwang von Traettas Oper.
Innsbrucker Festwochen der Alten Musik
Traetta: Ifigenia in Tauride
Christophe Rousset (Leitung), Nicola Raab (Regie), Madeleine Boyd (Bühne & Kostüm), Rocío Pérez (Ifigenia), Rafał Tomkowicz (Oreste), Alasdair Kent (Toante), Suzanne Jerosme (Pilade), Karolina Bengtsson (Dori), NovoCanto, Les Talens Lyriques
Fr., 29. August 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Traetta: Ifigenia in Tauride
Innsbrucker Festwochen der Alten Musik