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Opern-Kritik: Komische Oper Berlin – Pierrot Lunaire

Entskandalisierter Psychotreibstoff

(Berlin, 30.9.2020) Barrie Kosky und Dagmar Manzel servieren mit Schönberg und Beckett kein schales Corona-Substitut, sondern großes Fressen für die Seele.

vonRoland H. Dippel,

Soeben hat Dagmar Manzel Schönbergs und Girauds „Pierrot Lunaire“ zurück nach Bergamo geschickt. Mitten im Schlussapplaus macht Regisseur und Hausherr Barrie Kosky die Bühne der Komischen Oper zum Schauplatz seiner Premieren-Ansprache, die unter normalen Bedingungen mit etwas Widerstand durch animierten Gesprächspegel im Foyer stattgefunden hätte: Die dank des deutschen Subventionstheater-Systems bezahlten Künstler und Betriebsmitglieder haben verdammt noch mal eine Verpflichtung als Köche des „Fressens für die Seele“! Kosky verspricht „Trauma“, „Entertainment“ und andere künstlerische Maßnahmen gegen den pandemischen Wahnsinn. Publikum und Intendanz waren sich einig über dieses Versprechen und die herausragende Leistung Dagmar Manzels mit dem Kammerensemble unter dem jungen Österreicher Christoph Breidler.

Symbole und Matrosenanzug

Dagmar Manzel in „Pierrot Lunaire“
Dagmar Manzel in „Pierrot Lunaire“

Dieser Abend ist kein Corona-Substitut, sondern eine seit drei Jahren vorbereitete vollgültige Produktion. Dagmar Manzel, die auf der Bühne der Behrenstraße beginnend mit Weills „Sieben Todsünden“ 2012 zur Massary des frühen 21. Jahrhunderts und Stern der Arä Kosky wurde, bewegt und berührt. Dabei wird es diesmal keine „typische“ Kosky-Produktion, obwohl die Texte der drei Monodramen alles Menschliche berühren. Schönbergs Aufbruch in bis dahin ungeahnte Klangwelten durch eine den genauest notierten Noten folgende Frauenstimme ist eine Legende der Musik des 20. Jahrhunderts wie Strawinskys „Sacre“, Morton Feldmans zweites Streichquartett oder Varèses „Déserts“.

Der Choralionsaal war 1912 Ort der Schönberg-Uraufführung mit der nicht mehr jungen und provokativ Bein zeigenden „voice artist“ Albertine Josepha Anna Maria Magdalena Zehme, der zwischen Wagner-Gesang, Melodram und Pantomime nichts fremd war. Der Skandal und die Entrüstung über den von ihr in Auftrag gegebenen Zyklus mit dreimal sieben Liedern schien sie eher zu beflügeln als zu brüskieren. 2011 spielte man in Hebbel am Ufer die Bühnenversion, welche Bruce LaBruces filmischer Transformation vorausging. Da wurde „Pierrot Lunaire“ der Soundtrack zu den physisch-psychischen Konflikten und Killerphantasien eines Transmanns. Samuel Becketts Monologe, die Schauspielerinnen durch Wortakrobatik und psychische Innenspannung in den Wahnsinn treiben könnten, gelangten in der Werkstatt des Schiller Theater Berlin 1973 bzw. 1983 zur deutschen Erstaufführung.

Menschenkind im Matrosenanzug

Diese Rezeptionsgeschichte hätte den fein gestalteten Manzel-Abend auch belasten können. Aber alle Vergleichsfallen prallen ab. Manzel verweigert die expressionistische Attitüde, die Übersteigerung, die Lust am erotischen Lavastrom und an der melodramatischen Hybris. Schönbergs fast surreale Zick-Zack-Sprünge zwischen dem Spiel mit Tabus und burlesker Kernschmelze wurde von Kosky und Manzel ohne Sinn- und Spannungsverlust skelettiert. Albert Girauds 1884 in französischer Sprache erschienene und von Otto Erich Hartleben ins Deutsche übersetzte Gedichte „Pierrot Lunaire. Rondels bergamasques“ sind eher das Tor zur Poesie als die Pforte zu den schreienden Farben des Expressionismus. Was gibt es Zarteres und Stilleres als den Teddybären im weiß gestrichenen Bettgestell, mit dem Dagmar Manzel auf der bis zur Brandmauer aufgerissenen Bühne dialogisiert? Sie ist das Menschenkind, dem beim Sinnen-Erwachen der Matrosenanzug zu eng wird. Noch ist diese in der Freude an Lautspielen die Bedeutungsschwere von Worten und das Schweben und das Heraufdämmern des Begehrens nur halb bewusst. Von Dagmar Manzel gibt es für Schönberg keine zu scharfen Silben, keine spitzen oder erstickten Schreie – keinen Hauch, kein Seufzen, kein Zischen, kein Röcheln. Für die naive Kindervision ist ihre Sprachhaltung zu artifiziell, für die pubertierende Pennälerphantasie in zu großem Abstand von erogener Energie. Manzel verleiht den aufwühlenden Metaphern, deren Stichkraft in die Hörgänge nach 110 Jahren nur mehr bedingt nachvollziehbar sind, zu morbiden Instrumentalklängen glaubhaftes Ahnen und Unschuld. Nach Becketts extremer Bizarrerie wird dieser entskandalisierende Veredelung zur großartigen Leistung einer Schauspielerin, die keine musikalische Einstudierungsstrapaze scheute.

Tod und orale Feuchtgebiete

Dagmar Manzel in „Rockaby“
Dagmar Manzel in „Rockaby“

Nur der Mund der Darstellerin darf nach künstlerischer Verfügung Samuel Becketts für den mit sexuellen Gewaltspuren und Distanzierungsbekundungen durchsetzen Text „Nicht ich“ sichtbar sein. Wie im Opening der „Rocky Horror Picture Show“ sind die oralen Feuchtgebiete und das fleischige Sprechwerkzeug vor pechschwarzem Hintergrund in voller Aktion, zwingen Zuschauerblicke magnetisch auf sich. Dagmar Manzel macht daraus eine dramatische Liturgie mit heftigen Hagelschauern aus Sätzen und Halbsätzen. „Rockaby“ meint die gefühlte Zeitspanne einer alten Frau im Denken an die eigene Geburt und den eigenen Tod. Die in enger künstlerischer Freundschaft verbundenen Protagonisten Dagmar Manzel und Barrie Kosky sind auch Philosophen. Es ist eine dringliche Leistung, wenn Beckett, der seine Figuren in existenziellen Sackgassen gerne stehen ließ, und Schönberg, dem es von „Gurrelieder“ bis „Moses und Aron“ immer wieder um Aufbruch geht, an einem Abend zu vereinen. Dieses Schwere gelingt Kosky und Manzel mit mentaler Leichtigkeit. Man erlebt auch, wie unwichtig Dekoration, Opulenz und visuelle Sensationen sind, wenn Darstellung und Essenz stimmen. Auch dank der Zurückhaltung der Ausstattung von Valentin Mattka und Katrin Kath eine große Premiere.

Komische Oper Berlin
Schönberg: Pierrot Lunaire/Beckett: Nicht ich & Rockaby

Christoph Breidler (Leitung), Barrie Kosky (Regie), Valentin Mattka (Bühne), Katrin Kath (Kostüme), Dagmar Manzel, Mitglieder des Orchester der Komischen Oper Berlin

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