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Opern-Kritik: Oper Frankfurt – Boris Godunow

Am Anfang war das Ei

(Frankfurt, 2.11.2025) Keith Warner inszeniert Mussorgskis monumentalen „Boris Godunow“ an der Oper Frankfurt als packende Chronik von Macht, Schuld und Volksleid. Unter Thomas Guggeis entfaltet das Opern- und Museumsorchester dazu einen Klang von wuchtiger Intensität und klarer Textur.

vonPatrick Erb,

Wo anfangen bei einem Werk von nahezu kosmischer Ausdehnung? Ein Werk, das Chronik und Historiendrama zugleich sein will – und das in lose verknüpften Episoden einen treffenden Blick auf jene Zeit der Wirren wirft, die Russland zu Beginn des 17. Jahrhunderts erschütterte. Zwar trägt Modest Mussorgskis Oper den Namen „Boris Godunow“, doch steht – wie schon bei Alexander Puschkin intendiert, vom Komponisten musikalisch ausgeformt und nun in Keith Warners Neuinszenierung an der Oper Frankfurt eindrucksvoll bebildert – nicht der Titelheld im Zentrum, sondern das Volk. Nicht das Wirken eines austauschbaren Herrschers oder seines gegen ihn konspirierenden Prätendenten, sondern die ewigwährende Tragödie eines Volkes, das vom politischen Treiben der Mächtigen zerrieben wird.

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Szenenbild aus „Boris Godunow“
Szenenbild aus „Boris Godunow“

Die Uhr tickt

Warner führt zwei Leitmotive ein: die Uhr und das Ei. Im Prolog gehört die Bühne zunächst der Moskauer Bevölkerung und ihrer Obrigkeit, die Boris Godunow zum Zaren ausrufen will und die in Fesseln gelegte Menge mit Gewalt zum blinden Herrscherlob treibt. Ob dafür der Innenhof eines Gulags und prügelnde Geheimpolizisten als Zeichen maßlosen Gewaltexzesses notwendig sind, mag man hinterfragen – ebenso wie die bewusste Zeitlosigkeit der Kostüme, deren Spannweite von orthodoxen Priesterkutten über das prunkvolle Herrscherornat der Bojaren bis hin zu Uniformen mit Gestapo-Anklängen und modernen Trenchcoats im Stil des Film noir reicht. Modern also, doch wie modern – das bleibt der Fantasie des Zuschauers überlassen.

Aus der Ära dieses Film-noir-Tonfalls stammt wohl auch Dmitri Schostakowitschs in Frankfurt gespielte Fassung von „Boris Godunow“. Die Eröffnungsszene gelingt als überwältigendes Beispiel maßloser wie sinnlos überhöhter Chorhuldigung – inszenierte Jubelrufe, die in keiner anderen Oper so leidvoll erklingen. Hier dirigieren die Peiniger ihre Gepeinigten gleich selbst. Auf diesem Niveau darf der Frankfurter Opernchor getrost als einer der besten des Landes gelten.

Szenenbild aus „Boris Godunow“
Szenenbild aus „Boris Godunow“

Erst der zweite Akt im Zarengemach greift das Uhrenmotiv bildlich auf: als gigantische Projektion über dem Schreibtisch Godunows und durch die unaufhörlich rotierende Drehbühne. Die stetig voranschreitende Uhr wird zum Sinnbild des Vergehens aller Macht, während die Globen auf dem Tisch und ein Krönungsei den Herrschaftsanspruch über ein gewaltiges Reich markieren. Godunow ist hier ein fast unfreiwilliger Herrscher, der mit seiner Rolle fremdelt und doch vom Machthunger erfasst ist.

Vater und Herrscherfigur

Doch was zeigt dieser intime Akt gegenüber jenen in der Öffentlichkeit? – Allen voran offenbart er den liebevollen Vater, der seine verwitwete Tochter (in einer leider viel zu kurzen Episode voll reiner Unschuld: Anna Nekhames) tröstet und sich an der Neugier seines Sohnes erfreut. Hier zeigt Alexander Tsymbalyuk in der Titelpartie seine erste große Sternstunde: zwischen väterlicher Zärtlichkeit, Selbstzweifel und Herrscherpathos. Mit seinem profiliert scharf konturierten, dem bassbasalen royalen Gestus, der das gesungene Wort stets über jede äußere Theatralik stellt, verleiht Tsymbalyuk dem Zaren eindringliche Größe. In der Sterbeszene übertrifft er sich schließlich selbst.

Szenenbild aus „Boris Godunow“
Szenenbild aus „Boris Godunow“

Aller Machtanspruch geht vom Bette aus

In der Langfassung des Werks diente der Polen-Akt dazu, den Wünschen des St. Petersburger Opernkomitees entgegenzukommen. Vor allem der starken Frauenfigur Marina Mnischek und dem Prätendenten Grigori sollte mehr Gewicht verliehen werden. Videoprojektionen schaffen mal royale Feststimmung, mal weite Landschaften; die prachtvollen Ballkostüme und das pompöse Bett im „Rosenkavalier“-Stil verweisen darauf, dass Macht und Liebe auch hier untrennbar verbunden sind. Doch nichts erscheint überflüssig: Weder die extravagante Leidenschaft noch der royale Prunk. Dieser Akt verleiht dem Werk seine ureigene tragische Komik – das konspirative Trio Grigori, Marina und Rangoni steht exemplarisch für die Vermengung von Erotik und Machtgier.

Dmitry Golovnin gestaltet den falschen Dmitri als Antihelden par excellence: ein Tenor für jemanden, der gerne Held wäre, aber Ratte ist – falsch, verlogen, verwirrt, eitel und psychisch labil. Der Kirchenmann Rangoni (mit sadomasochistischen Zügen) lässt sich von Marina in den Coup einspannen; die Peitschenhiebe mit der neunschwänzigen Katze werden zum Symbol erotisch aufgeladener Unterwürfigkeit. Schließlich besingen Grigori und Marina den geplanten Staatsstreich, der unzählige Tote fordern wird, in feierlichster Polonaise – süßeste Jahrmarktsmusik zu einem mörderischen Spiel. Nur in den Köpfen wahrer Usurpatoren kann der Tod so harmlos klingen.

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Szenenbild aus „Boris Godunow“
Szenenbild aus „Boris Godunow“

Eine unendliche Geschichte

Wie zu Beginn hungert das Volk auch jetzt. Die flehentlichen Bitten an den gleichgültigen, altgewordenen Zaren bleiben unerhört. Der sitzt in seinem Thron – einem Ei im Fabergé-Stil, das gleichsam auch Zeitkapsel sein könnte –, sieht vor allem den Komplott gegen ihn näherkommen, wie er auch sein Ende kommen sieht. Seine letzten Stunden widmet er dem Sohn Fjodor, den er vor den Gefahren der Macht warnt. Doch die Masse ist längst entfesselt, fordert die Revolution, das Alte stürzt ins Chaos. Der falsche Dmitri gelangt kurzzeitig an die Macht – eine Episode, von der nur das Publikum weiß, wie kurz sie halten wird – und das Volk kann wieder jubeln.

Und so ist es am Ende der Narr, der übrig bleibt, so frisch und klar aus einem Ei geschlüpft, um das Leid des gepeinigten russischen Volkes zu besingen. Er (hinreisend in wehmütig-lamentierenden Tenortönen und in der Oper leider viel zu selten vorkommend: Michael Mccown), der wie keine andere Figur für tragikomische Wirkung der Oper, vielleicht sogar stellvertretend für die Seele eines gepeinigten, hier wieder neugeborenen Russlands steht – kriecht schon zu Beginn der Oper aus dem Schoss seines Fürsten Boris Godunow heraus und wird erstochen, geprügelt, gedemütigt und bestohlen. Welche Moral man daraus für das Heute ziehen will, muss wohl jeder für sich selbst beantworten.

Szenenbild aus „Boris Godunow“
Szenenbild aus „Boris Godunow“

Sängerische Grandezza bis zur kleinsten Rolle

Frankfurt zeigt „Boris Godunow“ in vitaler, üppig ausgestatteter, doch nie ins Kitschige kippender Form. Keith Warner bleibt Chronist. Er lässt viele Facetten unkommentiert stehen, meidet Deutungen in eine Richtung. Mehr noch glänzt Frankfurt aber mit exzellenter Besetzung bis in die kleinste Rolle. Neben Godunow und Grigori ist vor allem Andreas Bauer Kanabas ein Pimen größtmöglicher stimmlicher Reife. Sein von bedingungsloser Frömmigkeit durchzogener, kraftvoller Bass beherrscht den Raum und gerät zu Offenbarung.

Mezzosopranistin Sofija Petrović debütiert als Marina in Frankfurt und bringt tiefgründiges Timbre und klare Phrasierungskunst mit. Als Oligarchenfrau im Seidelnachthemd stilisiert, verleiht sie der Rolle weit mehr Gewicht. Tenor AJ Glueckert in der Rolle des Opportunisten Schuiski stärkt seine Position als starker Charakterdarsteller des Frankfurter Ensembles zwischen Verlogenheit und Offenbarungseid. Karolina Makuła schließlich gestaltet den Zarewitsch Fjodor mit naiv-unschuldigem, leuchtendem Mezzosopran als tragisch scheiternde Figur von berührender Menschlichkeit.

Szenenbild aus „Boris Godunow“
Szenenbild aus „Boris Godunow“

Orchester in Spitzenform

Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester, dieser so geniale und exzeptionelle Klangkörper, entfesselt unter Thomas Guggeis einen Klang von bezwingender Eleganz und eruptiver Energie. Guggeis wahrt die Balance, lässt das Orchester nie den Gesang übertönen und erfüllt Mussorgskis Ideal, das Wort über die Musik zu stellen. Das Textverständnis, das Mussorgski so wichtig war, bleibt vollkommen erhalten. Frankfurt darf sich mit diesem „Boris Godunow“ auf hohem, ja kräftezehrendem Niveau feiern lassen.

Oper Frankfurt
Mussorgski: Boris Godunow

Thomas Guggeis (Leitung), Keith Warner (Regie), Katharina Kastening (Regiemitarbeit), Kaspar Glarner (Bühnenbild & Kostüme), Jorge Cousineau (Video), John Bishop (Licht), Álvaro Corral Matute (Chor), Alexander Tsymbalyuk, Karolina Makuła, Anna Nekhames, Judita Nagyová, AJ Glueckert, Andreas Bauer Kanabas, Dmitry Golovnin, Sofija Petrović, Thomas Faulkner, Inho Jeong, Peter Marsh, Claudia Mahnke, Michael Mccown, Mikołaj Trąbka, Kinderchor, Chor- und Extrachor der Oper Frankfurt, Frankfurter Opern- und Museumsorchester






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