Los geht’s mit einem Wunschkonzerthit: Die Ouvertüre zur Großen Zauberoper in fünf Akten von Michail Glinka ist eine mitreißende orchestrale Verheißung. Azim Karimov am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg bedient sie zur Premiere der Staatsoper Hamburg freilich nicht einfach, er lässt sie in nachgerade manischem Tempo abspulen, er überreizt das russische Idiom um genau jene Spur, sodass wir besonders genau hinhören und alsbald verstehen, was denn diese Musik wirklich groß und gültig macht. Denn Glinka hat hier 1842 nicht nur die erste russische Nationaloper geschaffen, die der Neigung zum existenziell gesteigerten Seelenschmerz und der nicht minder überreizten Lebenslust intensiv Ausdruck verleiht – und dazu im Text pflichtschuldig patriotisch Russlands „Taten vergangener Zeiten“ für eine Gegenwart beschwört, die sich der Großartigkeit der Vorväter tunlichst wieder versichern solle.
Glinka schuf eine nachgerade mitteleuropäische Partitur
Was an diesem Abend wirklich enorm berührt, ist etwas anderes: Es sind die fein ausgehörten Mischungen von zarten Streichergespinsten und lukullischen Holzbläserkantilenen, es ist ein Melos, der direkt an den Belcanto von Bellini, Donizetti und Rossini erinnert, es ist eine klassizistisch abgesicherte Romantik, die an Felix Mendelssohn denken lässt. In einem Wort: Glinka schuf hier eine nachgerade mitteleuropäische Partitur, die wie selbstverständlich amalgamiert und mit der eigenen Handschrift verbindet, was kompositorisch in Leipzig, Mailand, Paris oder Wien parallel entstand. Seine Arientypen erinnern immer wieder an den jungen Verdi.

Die Partitur steckt voller Aha-Effekte. Und sie beweist den intensiven kulturellen Austausch zwischen Ost- und Westeuropa, der im 19. Jahrhundert herrschte. Die den politischen Erwartungen entsprechende Entwicklung nationaler Musikstile und ein gemeinsamer Geist, der diese Eigenheiten überstrahlte und transzendierte, waren ein kreativer Widerspruch, an den man sich heute im Angesicht des kriegerischen russischen Zivilisationsbruchs mehr als schmerzlich erinnert. Es ist ein enormer Verdienst von Dirigent, Orchester und einer exquisiten sängerischen Besetzung, dass man über Glinkas kompositorische Stärke und Variabilität dankbar ins Staunen gerät.
Das titelgebende Liebespaar beglückt
Denn nicht nur das titelgebende Liebespaar strahlt vokal auf beglückende Weise: Barno Ismatullaeva legt ihre Ljudmila mit lyrischem Schmelz, flutendem Legato und feiner Koloraturagilität zwischen Verdis Violetta, seiner Desdemona und Offenbachs Olympia an. Ihre von Konzertmeister Konradin Seitzer mit fein abgeschmecktem russischem Vibrato umschmeichelte zweite Arie gehört zu den klangpoetischen Höhepunkten des Abends. Ilia Kazakov, neues Ensemblemitglied der Hamburgischen Staatsoper, adelt den Ruslan mit nie nur wuchtigem, sondern geschmeidig geführtem Bassbariton. Ideal mischen sich bei ihm russisches Idiom und italienische Legatokultur. Auf diesen jungen Sänger darf man sich in den folgenden Spielzeiten freuen.

Auf der verzweifelten Suche nach einer gesellschaftskritischen Lesart mit Gegenwartsbezug
Nur wie soll man Michail Glinkas Oper sinnstiftend in Szene setzen? Ihr liegt ein Märchen Puschkins zugrunde. Die Hochzeit von Russland und Ljudmila steht unter keinem guten Stern. Sie wird von einem bösen Zauberer entführt und findet erst nach einigen Irrungen und Wirrungen einer langen Suche, dem Einwirken guter und böser Feen und Zauberer sowie einem schneewittchengleichen Schlaf zurück in die Arme ihres Geliebten. Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka allerdings interessiert die Märchenschicht der Erzählung mitnichten. Das ungarische Regie-Duo, gemeinschaftlich Inszenierung, Bühne und Kostüme verantwortend, sucht nach einer gesellschaftskritischen Lesart mit Gegenwartsbezug. Sie fragen, wie es sich leben und lieben lässt in einem restriktiven System, das die Behauptung von Sicherheit über das Grundbedürfnis von Freiheit und Gleichheit stellt. Da wird also schon zur Hochzeit des Beginns die Feierlaune staatlich angeordnet und durch Polizeigewalt eingehegt.
Da dieses Korsett den Gefühlen des jungen Paars arg entgegenläuft, schluckt Ljudmila eifrig Tabletten, und Ruslan spricht intensiv dem Alkohol zu. Nur: Wie viele hundert Inszenierungen haben wir gesehen, wo emotionale Extremsituationen bei Frauen und Männern auf genau diese plakative Weise übersetzt wurden? Ärger und ärgerlicher wird es, wenn Ruslan und Ljudmilas Gänge durch die Unterwelt mit all den Begegnungen geheimnisvoller Gestalten in die Schächte von U-Bahn-Stationen verlegt werden. Das sieht zwar alles mit dem bunten Graffiti und den abgewrackten Metro-Kiosken wirklich dekorativ aus, bietet jedoch kaum imaginativen Mehrwert. Die edle Absicht, die dunkel vernebelte Märchendistanz durch möglichst konkrete und klare Bilder zu verkürzen, führt in ihr Gegenteil: in die noch größere Distanz von Geschichten, die uns so gar nichts angehen.

Geschlechterklischees, plumpe Analogien, geringe Poesie
Die Regisseurinnen Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka liefern Regietheater von der Stange, das zwar handwerklich präzise auf die Bühne gebracht wird, sich allerdings zum Stoff derart unspezifisch verhält, dass dieses Setting und die karnevalesken Kostüme problemlos auch für Verdis „La traviata“ oder Offenbachs „Hofmanns Erzählungen“ zum Einsatz kommen könnten. Die angekündigte Emanzipationserzählung einer jungen Generation, die aus den engen Erwartungen sozial anerkannter Lebenswege ausbrechen will, klingt auf dem Konzeptpapier interessant.
Nur wenn sie mit so vielen Geschlechterklischees (die heute längst auch das dritte Geschlecht umfassen), derart plumpen Analogien und derart geringer Poesie (bei durchaus opulenten Schauwerten) auf die Bühne gebracht wird, ist wenig gewonnen. Immerhin ist das Finale mit seiner vergifteten Affirmation, die das Paar zurück ins System zwingt, von anregender Dialektik. Und dem Regie-Duo muss man zu gute halten, dass es die Figuren (gerade auch die offiziell bösen) ernst nimmt, also nie lieblos desavouiert. Wirklich geknackt aber haben Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka das Werk leider nicht. Die Wiederbegegnung mit Glinkas so selten gespielter Zauberoper bleibt nur musikalisch eine Erfüllung. Szenisch floppt sie.
Staatsoper Hamburg
Glinka: Rusland und Ljudmila
Azim Karimov (Leitung), Alexandra Szemerédy & Magdolna Parditka (Regie, Bühne & Kostüme), Janic Bebi (Video), Bernd Gallasch (Licht), Alice Meregaglia (Chor), Katinka Deecke, Judith Wiemers (Dramaturgie), Barno Ismatullaeva, Ilia Kazakov, Alexei Botnarciuc, Nicky Spence, Artem Krutko, Kristina Stanek, Natalia Tanasii, Alexander Roslavets, Chor der Hamburgischen Staatsoper, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Termintipp
Mi., 12. November 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Glinka: Ruslan und Ljudmila
Barno Ismatullaeva (Ljudmila), Ilia Kazakov (Ruslan), Alexei Botnarciuc (Farlaf), Nicky Spence (Bajan/Finn), Artem Krutko (Ratmir), Kristina Stanek (Naina), Azim Karimov (Leitung), Alexandra Szemerédy (Regie), Magdolna Parditka (Regie)
Termintipp
Sa., 22. November 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Glinka: Ruslan und Ljudmila
Barno Ismatullaeva (Ljudmila), Ilia Kazakov (Ruslan), Alexei Botnarciuc (Farlaf), Nicky Spence (Bajan/Finn), Artem Krutko (Ratmir), Angela Denoke (Naina), Azim Karimov (Leitung), Alexandra Szemerédy (Regie), Magdolna Parditka (Regie)
Termintipp
Do., 27. November 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Glinka: Ruslan und Ljudmila
Barno Ismatullaeva (Ljudmila), Ilia Kazakov (Ruslan), Alexei Botnarciuc (Farlaf), Nicky Spence (Bajan/Finn), Artem Krutko (Ratmir), Angela Denoke (Naina), Azim Karimov (Leitung), Alexandra Szemerédy (Regie), Magdolna Parditka (Regie)
Termintipp
Di., 02. Dezember 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Glinka: Ruslan und Ljudmila
Barno Ismatullaeva (Ljudmila), Ilia Kazakov (Ruslan), Alexei Botnarciuc (Farlaf), Nicky Spence (Bajan/Finn), Artem Krutko (Ratmir), Kristina Stanek (Naina), Azim Karimov (Leitung), Alexandra Szemerédy (Regie), Magdolna Parditka (Regie)
Termintipp
Do., 11. Dezember 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Glinka: Ruslan und Ljudmila
Barno Ismatullaeva (Ljudmila), Ilia Kazakov (Ruslan), Alexei Botnarciuc (Farlaf), Nicky Spence (Bajan/Finn), Artem Krutko (Ratmir), Kristina Stanek (Naina), Azim Karimov (Leitung), Alexandra Szemerédy (Regie), Magdolna Parditka (Regie)




