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Blind gehört Dorothee Oberlinger

„Das ist wie ein Blick ins 17. Jahrhundert“

Die Blockflötistin Dorothee Oberlinger hört und kommentiert CDs ihrer Kollegen, ohne dass sie erfährt, wer spielt

vonArnt Cobbers,

Es passiert nicht oft, dass Dorothee Oberlinger für mehrere Tage am Stück zu Hause in Köln ist. Die gebürtige Aachenerin ist Professorin für Blockflöte und leitet die Abteilung Alte Musik am Mozarteum in Salzburg, sie ist Intendantin der Arolser Barockfestspiele und hat einen gut gefüllten Konzertkalender. Am Nachmittag vor einem Konzert in Köln nimmt sie sich Zeit fürs CD-Hören. „Das CD-Raten haben wir früher abends beim Essen gemacht – ich liebe dieses Spiel.“

van Eyck: Preludium of Voorspel aus: Der Fluyten-Lusthof 

Dan Laurin (Blockflöte) 1996

BIS

Da fallen mir nur zwei ein, die das eingespielt haben: der junge Eric Bosgraf und Dan Laurin, der alle Stücke aus dem Fluyten-Lusthof aufgenommen hat, das sind über zehn Stunden Musik. Mir fällt auf, dass es eine sogenannte Handfluyt ist, aus einem Stück Holz gebaut, genau so eine Flöte hat der blinde van Eyck gespielt, wenn er sonntags die Kirchgänger von Utrecht mit seinem Flötenspiel erfreut hat. Das ist wie ein Blick ins 17. Jahrhundert. Es ist sehr schön geblasen, mit Drive, mit einem gut geführten Luftstrom, und interessant ist, dass die schnellen Notenwerte zum Teil gebunden sind. Das ist so eine Diskussion in den Alte-Musik-Kreisen, ob man zur Zeit des Frühbarock so viel Legato gespielt hat, denn die alten Quellen sagen, dass man die schnellen Notenwerte alle stoßen soll, aber weich. Dass sich der Flötist hier traut, sie schwungvoll in einer großen Geste zu binden, finde ich gut, ich mache das selbst auch. Der Fluyten-Lusthof ist ja das umfangreichste Solowerk für ein Blasinstrument überhaupt, die Noten hat jeder Blockflötist zu Hause. Aber es reicht, dass Dan Laurin das komplett eingespielt hat, er hat es für uns alle getan. Es hat den Touch einer Anthologie. Manchmal höre ich mir ein Stück an, wenn ich mich inspirieren lassen will. Ich bewundere Laurin sehr, als Studentin habe ich mir alle CDs von ihm gekauft.

Telemann: Sonate für Blockflöte und b.c. F-Dur TWV 41: F2

Frans Brüggen (Blockflöte)

Anner Bylsma (Violoncello)

Gustav Leonhardt (Cembalo) 1969

Apex

Herrlich, das ist Frans Brüggen, eine Aufnahme aus den 60ern. In 440 Hertz, auf einer Coolsma-Flöte eingespielt, da hat er noch ein schnelles Vibrato über alles gelegt. Danach hat er ja viele Wege beschritten, da gab es die Non-Vibrato-Phase und dann die Zeit, wo er es als Gewürz eingesetzt hat. Der moderne Stimmton klingt für mich ein bisschen wie eine LP, die zu schnell abgespielt wird. Heute spielen wir spätbarocke Musik ja in 415 Hertz oder tiefer. Diese wunderbare F-Dur-Sonate von Telemann wird viel zu selten im Konzert gespielt, weil sie ein bisschen zur Jugend-musiziert-Literatur verkommen ist, jedes Kind spielt sie. Dabei ist es so tolle Musik, einfach gute Gebrauchsmusik, geschrieben für die Hamburger Bürger. Von Frans Brüggen hing ein großes Poster in meinem Jugendzimmer. Es gab schon noch andere Blockflötisten, aber er war die Glamourfigur, und ich glaube, wenn er zu dem Zeitpunkt nicht da gewesen wäre, wäre die Geschichte der Blockflöte anders verlaufen. Seine späteren Einspielungen sind immer noch großartig, vom Timing und der Ornamentik her, vom Klang und überhaupt vom Geschmack her. Es ist in den letzten Jahren tendenziell alles schneller und lauter geworden, aber nicht unbedingt besser. Frans Brüggen hat für schnelle Sätze oft gemäßigte Tempi gewählt, je nach Charakter. Heute gibt’s oft nur noch schwarz und weiß, sehr langsam oder sehr virtuos, die Zwischenfarben gehen dabei verloren. Brüggen und seine Kollegen haben damals vieles zum ersten Mal gespielt, wir heute haben manches Stück schon hunderte Male gespielt und gehört und machen es vielleicht deshalb immer schneller und verrückter. Brüggen hat noch diese Ruhe gehabt, diesen Pioniergeist, zu dem wir zurückfinden sollten.

Bach: Sonate Es-Dur BWV 1031

Michala Petri (Blockflöte)

Keith Jarrett (Cembalo) 1992

RCA Red Seal

Es klingt wie die C-Dur-Sonate BWV 1033 von Bach, aber noch galanter. Ist das Telemann? Das ist doch kein Bach, ich kenne doch alle Bach-Sonaten! (Sie guckt im Lexikon nach.) „Bachs Autorenschaft ist nicht zweifelsfrei gesichert.“ Ein schönes Stück, muss ich mir angucken. Alle anderen Bach-Sonaten werden dauernd gespielt – warum diese nicht? Weil man nicht sicher weiß, ob es wirklich Bach ist? Ist das Michala Petri? Sie hat einen sehr stromlinienförmigen, glatten Klang, sie spielt meist in 440 Hertz mit sehr harten Hölzern, sehr brillant, ziemlich schnörkellos, aber ich finde, dass ihr Klang dadurch auch etwas Zauberhaftes hat. Sie hat immer ihre eigene Linie verfolgt, ist nicht mit der Alte-Musik-Szene gegangen. Ist das Keith Jarrett am Cembalo? Es ist interessant, dass er so steif spielt. Im Jazz ist er so frei, und in der Klassik spielt er total korrekt. Es ist ein komisches Phänomen, das Jazz-Musiker häufig ihre Freiheit nicht mitnehmen, wenn sie Klassik spielen.

Vivaldi: Konzert für Blockflöte und Orchester c-Moll RV 441 (2. und 3. Satz)

Sébastien Marq (Blockflöte), Ensemble Matheus, Jean-Christophe Spinosi (Leitung) 2001. Opus 111

Vivaldi schreibt am Anfang des Largos keine Keile über den Viertelnoten, aber sie spielen statt der notierten Viertelnoten Achtel und machen ein „Largo e spiccato“ daraus. Lustige Verzierung… Das Largo empfinde ich langsamer und statischer, als Ruhe vor dem Sturm. (3. Satz) Ist das Spinosi mit Sébastien Marq? Die setzen total auf Effekt. Um Gottes Willen! Ich vermute fast, man hat bei der Aufnahme an den Reglern gedreht, um diese plötzlichen crescendi und decrescendi zu unterstützen. Ich habe den letzten Satz mit seinem Fugenthema immer viel strenger empfunden. Das c-Moll-Konzert ist für mich eines der schönsten Flötenkonzerte von Vivaldi. Er wählt c-Moll, um so etwas Verhangenes, Nebulöses zu erreichen, durch die Gabelgriffe, die man bei den ganzen Vorzeichen spielen muss, bekommt man keinen volltönenden Klang. Von der ganzen Struktur her ist das Konzert so interessant und so gut gearbeitet! Hier hätte man mehr Vertrauen in die Komposition legen können.

Corelli: Concerto per flauto Nr. 10 F-Dur 

Maurice Steger (Blockflöte), The English Concert, Laurence Cummings (Leitung) 2009

harmonia mundi

Ich liebe diese Platte! Das ist super gespielt, frisch und mit Witz, und es ist wirklich was Neues. Maurice hat diese verrückten Verzierungen verschiedener Komponisten von Corellis op. 5 für die Solo-Flöte gefunden und legt sie über die Orchesterbearbeitung von Geminiani. Diese Stücke waren große Mode, die hat man in den Clubs in London gespielt und dabei möglichst virtuos verziert… Auch wenn wir so unterschiedlich spielen und sind, können Maurice und ich gut zusammen spielen, wie jetzt in Hamburg. Bei der letzten CD-Aufnahme in Italien fehlte mir noch eine Flöte, da hat er mir ganz schnell eine aus der Schweiz geschickt. Wir Blockflötisten benutzen für fast jedes Stück eine andere Flöte, jede hat ihren eigenen Charakter. Ich habe mittlerweile an die hundert Instrumente.

Telemann (zugeschrieben): Concerto in g-Moll 

Dorothee Oberlinger (Blockflöte) Ensemble 1700

Reinhard Goebel (Leitung) 2009

deutsche harmonia mundi

Ich war gerade unterwegs zu einem Konzert, als Reinhard Goebel mich anrief und sagte: Dorothee, ich habe ein Geburtstagsgeschenk für dich – ich habe ein Telemann-Konzert für Blockflöte entdeckt. Ich dachte nur: Ich glaubs nicht. Dann hat er mir das Faksimile geschickt – und ich sah ein ganz tolles, hochvirtuoses Konzert für die Altflöte. So etwas passiert heute nur noch extrem selten. Auch wenn Telemanns Autorenschaft nicht 100prozentig gesichert ist, ist es ein neues Repertoirestück. Es gibt einige ungewöhnliche Stellen wie hier gerade diese langen geigerischen Passagen, wo man gar nicht weiß, wo man atmen soll – ich habe das gelöst über Verzierungen, die das kaschieren und die generell lange Stellen ohne Harmoniewechsel dynamischer machen. Der Höhepunkt wird dann mehr herausgearbeitet. Diesen Trick benutzt auch Vivaldi. Aber so undynamisch, wie ihr immer vorgeworfen wird, ist die Blockflöte gar nicht. Durch die vielen Alternativgriffe oder indem man etwa Löcher nur halb zumacht oder langsam öffnet, kann man mit Klangfarben arbeiten und in begrenztem Maße auch mit Dynamik. Und man muss als Blockflötist lernen, Dynamik vorzutäuschen z.B. durch Timing, ob ich einen Ton etwas zu früh oder verzögert bringe und durch das Vibrato. Wird es schneller, erweckt es den Eindruck eines Crescendo, legt man ein gleichförmiges Vibrato über eine Passage, wirkt sie statisch. Die Zusammenarbeit mit Goebel war toll, wir wollen eine Fortsetzung machen. Mit Telemann. Es gibt hoffentlich noch mehr Archivfunde dieser Art, ich warte immer noch auf das Bach-Blockflötenkonzert!

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