Opern-Kritik: Staatsoper Berlin – Elektra
Die Demut der Details
(Berlin, 23.10.2016) Patrice Chéreaus Schwanengesang ist das Vermächtnis des „besten Regisseurs der Welt“
© Monika Rittershaus

Zwei lebende Legenden der Oper umarmen sich auf offener Bühne: Donald McIntyre und Franz Mazura, einst Wotan und Alberich, Schwarzalbe und Lichtalbe einer vergangenen, ganz anderen Zeit des Musiktheaters geistern in raumsprengender Intensität durchs Schillertheater. Sie verkörpern die Kleinstpartien „Ein Alter Diener“ und „Der Pfleger des Orest“, machen die scheinbaren Nebenfiguren freilich ganz groß, in der Würde, der Kraft, der Präsenz eines 82- und eines 92-jährigen Veteranen der Wahrheit. Für sie gilt, was Wieland Wagner einmal über eine seiner bevorzugten Heroinen gesagt haben soll: „Was brauche ich einen Baum auf der Bühne, wenn ich Astrid Varnay habe?“
Antikisch, freudianisch und hoch modern zugleich
Auch in Patrice Chéreaus Inszenierungen gibt es keine Bäume mehr. Sein Bühnenbildner Richard Peduzzi, der schon den Bayreuther Jahrhundert-Ring von 1976 ausstattete, hat ihm für seine letzte Regiearbeit einen düsteren Hinterhof gebaut, der ganz aus dem Geiste des Expressionismus kommend einen gewesenen Palast von Mykene imaginieren lässt, dabei die Umrisse eines Kathedralenbaus der Neuzeit mitschwingen lässt, doch vor allen Dingen all das weglässt, was von den individuellen Schicksalen all dieser tragischen Frauengestalten des Stücks ablenken könnte.
© Monika Rittershaus

Hier gilt’s der Reduktion auf das Wesentliche und der Verdichtung, hier gilt’s dem Ausleuchten von Seelenräumen und der Anteilnahme an all diesen Versehrten des Mordens, des Rachenehmens, des Kriegführens, die dann mitsammen gar keine blutrünstigen Monster mehr sind, sondern nur mehr grenzenloses Mitleid erregende Gestalten – antikisch, freudianisch und hoch modern zugleich.
Menschen statt Mätzchen
Vor der Berliner Premiere lobt Hausherr Jürgen Flimm seinen früh verstorbenen Kollegen Patrice Chéreau, der wenige Wochen nach der beim Festival von Aix-en-Provence im Sommer 2013 aus der Taufe gehobenen Inszenierung der Elektra vom Krebs dahingerafft wurde: Patrice Chéreau sei „der beste Regisseur der Welt“ gewesen. Wie wahr. Den internationalen Siegeszug seiner Inszenierung, für die in Berlin vor drei Jahren die ersten szenischen Proben stattfanden, kann der Jahrhundertregisseur von Schauspiel, Film und Oper nicht mehr miterleben, nach der Frankreich-Premiere begeisterte die Produktion in Mailand, New York und Helsinki und bald in Barcelona zu erleben sein. Der Meister der Regie, der nicht klüger sein will als das Werk, kann nicht mehr selbst feilen an der Präzision der Personenführung, die so gänzlich anti-modernistisch nicht auf Mätzchen denn auf Menschen, auf Sängerdarsteller, auf Charakterköpfe setzt.
© Monika Rittershaus

Es ist die Demut der Details, die Liebe zu den Figuren, der Blick auf die Körper singender Menschen, die das Vermächtnis des Regisseurs so unmittelbar berührend machen. Neben den lebenden Legenden, zu denen neben den genannten beiden Bass-Bariton-Veteranen auch eine urmütterlich kugelrunde frühere Chrysothemis Cheryl Studer als „Die Vertraute“ und „Die Aufseherin“ sowie Roberta Alexander als 5. Magd gehören, sind es zwei Sängerdarstellerinnen, die den Abend ganz im Geiste Chéreaus tragen: Waltraud Meier und Evelyn Herlitzius als mörderische Mutter und ihr in Mutterhass wie Vaterliebe innig verbundene Tochter.
Patrice Chéreaus Erbinnen: Waltraud Meier und Evelyn Herlitzius
Meiers Klytämnestra ist ein Musterbeispiel an Konzentriertheit einer Königin, die still und stolz ihren Albträumen nachlauscht, ganz nah am Text gestaltend, die frühere Mezzowucht ganz ins Psychologische zurücknehmend. Und Evelyn Herlitzius fokussiert ihren mitunter wild lodernden hochdramatischen Sopran in der vollkommenen Durchdringung der Tochter Agamemnons besser denn je. Gleich einer wilden Katze des Ausdruckstanzes schleicht sie barfuß über den Hof von Mykene, kauert sich in einen Winkel, beobachtet das Geschehen, hört in sich hinein und ebendort die Stimme ihres von der Mutter ermordeten Vaters.
© Monika Rittershaus

Herlitzius singt und spielt so hingebungsvoll, mit so aufregend dunklem Glühen wie einst die andere ideale Darstellerin der Elektra: die Waliserin Gwyneth Jones. Die Herlitzius wie die Meier lassen die weiteren Sänger von Weltformat fast verblassen: die hell sopranstrahlende Adrianne Pieczonka als kleine Schwester Chrysothemis und den heldenbaritonalen Michael Volle als zögernden Vollstrecker der Rache namens Orest.
Daniel Barenboim: Der Stellvertreter Patrice Chéreaus auf Erden
Als Stellvertreter Patrice Chéreaus auf Erden freilich darf an diesem glorreichen Opernabend, dem die Kanzlerin nebst Gatte und Bundestagspräsident Lammert sichtlich bewegt beiwohnte, der musikalische Chef des Hauses gelten. Daniel Barenboim dient dem Regisseur im akustisch schwierigen Schillertheater mit einer so fulminanten wie ungewohnten Lesart der Partitur. Von den brüllenden Anfangsakkorden an verweigert Barenboim den expressionistischen Schrei des Stücks. Sein Verständnis der psychischen Polyphonie des Werks öffnet auf hoch sensible Weise Räume für die Zwischentöne des Seelischen, der Generalmusikdirektor hört intim auf die zerbrechlichen, Inneres nach Außen stülpenden Mittelstimmen der Holzbläser, er lässt die hohen Streicher blühen und flirren, musiziert in getragenen Tempi mit viel Liebe zum Detail aus, was in dieser grandiosen Musik an Sehnsuchtspotenzial nach dem Menschlichen steckt – und nicht nur an sattsam bekannten Horrorfilm-Schockwirkungen. Den Geist Chéreaus aufgreifend spürt Barenboim der ungeahnten Zärtlichkeit dieser Musik nach, die das Rohe, Fleischige, brutal Archaische des Stoffs zu transzendieren scheint. Kann das immerwährende Schlachten dieser Menschheit an ein Ende kommen?
Staatsoper Berlin im Schillertheater
Strauss: Elektra
Daniel Barenboim (Leitung), Patrice Chéreau (Regie), Richard Peduzzi (Bühne), Caroline de Vivaise (Kostüme), Evelyn Herlitzius, Waltraud Meier, Adrianne Pieczonka, Michael Volle, Franz Mazura, Donald McIntyre, Cheryl Studer, Staatskapelle Berlin
Termine
R. Strauss: Daphne (Premiere)
René Pape (Peneios), Anna Kissjudit (Gaea), Vera-Lotte Boecker (Daphne), Linard Vrielink (Leukippos), Pavel Černoch (Apollo), Staatsopernchor, Staatskapelle Berlin, Thomas Guggeis (Leitung), Romea Castellucci (Regie)
R. Strauss: Daphne
René Pape (Peneios), Anna Kissjudit (Gaea), Vera-Lotte Boecker (Daphne), Linard Vrielink (Leukippos), Pavel Černoch (Apollo), Staatsopernchor, Staatskapelle Berlin, Thomas Guggeis (Leitung), Romea Castellucci (Regie)
Cecilia Bartoli, Staatskapelle Berlin, Daniel Barenboim
Berlioz: Les Nuit d’été op. 7, Berlioz: Symphonie fantastique op. 14
Cecilia Bartoli, Staatskapelle Berlin, Daniel Barenboim
Berlioz: Les Nuit d’été op. 7, Berlioz: Symphonie fantastique op. 14
R. Strauss: Daphne
René Pape (Peneios), Anna Kissjudit (Gaea), Vera-Lotte Boecker (Daphne), Linard Vrielink (Leukippos), Pavel Černoch (Apollo), Staatsopernchor, Staatskapelle Berlin, Thomas Guggeis (Leitung), Romea Castellucci (Regie)
R. Strauss: Daphne
René Pape (Peneios), Anna Kissjudit (Gaea), Vera-Lotte Boecker (Daphne), Linard Vrielink (Leukippos), Pavel Černoch (Apollo), Staatsopernchor, Staatskapelle Berlin, Thomas Guggeis (Leitung), Romea Castellucci (Regie)
R. Strauss: Daphne
René Pape (Peneios), Anna Kissjudit (Gaea), Vera-Lotte Boecker (Daphne), Linard Vrielink (Leukippos), Pavel Černoch (Apollo), Staatsopernchor, Staatskapelle Berlin, Thomas Guggeis (Leitung), Romea Castellucci (Regie)
R. Strauss: Daphne
René Pape (Peneios), Anna Kissjudit (Gaea), Vera-Lotte Boecker (Daphne), Linard Vrielink (Leukippos), Pavel Černoch (Apollo), Staatsopernchor, Staatskapelle Berlin, Thomas Guggeis (Leitung), Romea Castellucci (Regie)
R. Strauss: Daphne
René Pape (Peneios), Anna Kissjudit (Gaea), Vera-Lotte Boecker (Daphne), Linard Vrielink (Leukippos), Pavel Černoch (Apollo), Staatsopernchor, Staatskapelle Berlin, Thomas Guggeis (Leitung), Romea Castellucci (Regie)
Staatskapelle Berlin, Petr Popelka
Strawinsky: Apollon musagète, Dvořá: Serenade d-Moll op. 44, Schönberg: Verklärte Nacht op. 4
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