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Opern-Kritik: Staatsoper Unter den Linden Berlin – Idomeneo

Simon Rattles Mozart-Wunder

(Berlin, 19.3.2023) Mozarts größte Oper dirigiert Sir Simon Rattle mit allen Finessen der historisch informierten Aufführungspraxis. Das Setting der Szene von David McVicar jedoch gleicht mehr einer anspruchsvollen Samurai-Revue als einer durch ihre Handlungsdringlichkeit faszinierenden Oper.

vonRoland H. Dippel,

„Idomeneo, Re di Creta“ ist möglicherweise Mozarts genialste Oper. An der Lindenoper hätte man das mit der gestern nach etlichen Monaten Pandemie-Verzögerung herausgekommenen Premiere besonders deutlich merken können. Denn dort wurde bei den Berliner Barocktagen 2021 das Vorbild-Stück „Idomenée“, André Campra Tragédie en musique aus dem Jahr 1731, in einer musikalisch hervorragenden Produktion einstudiert. Bekanntermaßen hatte der Salzburger Hofkaplan Giambattista Varesco deren Textbuch von Antoine Danchet für Mozart übersetzt und nach den Vorstellungen des Münchner Hofes für die Uraufführung im Alten Residenztheater am 29. Januar 1781 eingerichtet. Die von Kurfürst Carl Theodor nach München mitgebrachte Mannheimer Hofkapelle war ein weiteres beflügelndes Inspirationsmoment für Mozarts in die Zukunft weisende Oper. Bei der Berliner Premiere hörte man das von Sir Simon Rattle und der Staatskapelle Berlin. Wünsche nach einer Inszenierung auf ebenbürtiger Spannungs- und Fallhöhe der Partitur blieben leider unerfüllt.

Szenenbild aus „Idomeneo“ an der Staatsoper Unter den Linden
Szenenbild aus „Idomeneo“ an der Staatsoper Unter den Linden

Geographische Themaverfehlung

Bereits zu Mozarts „Mitridate“ im Dezember offenbarte die Lindenoper-Leitung asiatische Dekorationsbegehrlichkeiten. Das tat sie jetzt auch bei der Neuinszenierung des sich nicht verbeugenden David McVicar. Die Kostüme Gabrielle Daltons wiesen mindestens nach Zentralasien, wenn nicht in einen noch ferneren Osten. Der Chor hatte spätestens zur Opferszene hohe musikalische Grandezza, war meistens zu ornamentalen Gruppierungen und gemessenen Wandelgängen angehalten. Vicki Mortimers Bühnenmittelpunkt: Ein herabhängender Gesichtshelm mit leeren Augen und kaputten, meist vermummten Zähnen ist das Symbol drohender Mächte und Gottwesen. Affektive Bewegung und wirkungsmächtiges Pathos kommen in das Geschehen erst bei der letzten Umarmung Idomeneos, der dann seinen Sohn Idamante doch nicht opfern muss. Pittoreske Delikatesse hat die Idamante ohne Erwiderung liebende Elettra, wenn sie ihre heiligen Statuetten aufstellt und Harakiri übt, aber nicht ausübt.

Szenenbild aus „Idomeneo“ an der Staatsoper Unter den Linden
Szenenbild aus „Idomeneo“ an der Staatsoper Unter den Linden

Zur dramatischen Intensivierung tut die Schauplatzeigenmächtigkeit als Alternative zum Mittelmeerinsel-Königreich aus der griechischen Mythologie aber wenig. Insgesamt glich das Setting mehr einer anspruchsvollen Samurai-Revue als einer durch ihre Handlungsdringlichkeit faszinierenden Oper. Das Tanz-Ensemble nannte man diesmal Mouvement Group, Colm Seerys Choreografie war aber trotzdem Ballett der leichten, unverbindlichen und gut anzusehenden Art. Man spielte die Münchner Fassung und verzichtete leider auf das große Schlussballett KV 367, wollte sich nicht einmal zu einem Minuten-Digest bequemen.

Szenenbild aus „Idomeneo“ an der Staatsoper Unter den Linden
Szenenbild aus „Idomeneo“ an der Staatsoper Unter den Linden

Großartig: Simon Rattle und die Staatskapelle Berlin

Das war desto bedauerlicher, weil das Orchester und Sir Simon Rattle die Stars des Abends waren. Rattle dirigiert einen weichen Mozart mit den von der Staatskapelle Berlin leichtgewichtig beherzigten Finessen der historisch informierten Aufführungspraxis. Ein Forte war immer mehr als (sensibel herunter gedimmte) Lautstärke, immer wieder zauberten Bläser Crescendi aus dem Nichts. Streicher agierten mit feiner und aufmerksamer Klanggestik, das Blech prägnant und zart. Rattle steigert das dramatische Farben-Reservoir im hochdramatischen dritten Akt beträchtlich, findet da im Musik-Panorama zu rauen und sogar geschärften Hintergrund-Tönen. Er führt – bei ihm unerwartet – die milchige Mozart-Exegese Karl Böhms ins 21. Jahrhundert, unterfüttert sie mit sensitiver und pietätvoller Dramatik. Durch solche Feinheit und Mozart-Devotion werden die Versäumnisse der Regie desto deutlicher.

Szenenbild aus „Idomeneo“ an der Staatsoper Unter den Linden
Szenenbild aus „Idomeneo“ an der Staatsoper Unter den Linden

Zwei edle Mozart-Stimmen

Nur zwei Mitwirkende ließen sich kongenial auf Rattles visionär glückenden Mozart ein. Das sind Magdalena Kožená und Linard Vrielink, der beide Arien von Idomeneos Vertrautem Arsace singen und ein politisch undurchsichtiges Manöver spielen darf. Das entschädigte kurz vor Schluss doch noch ansatzweise dafür, dass die zentralen Konflikte dieser Oper – die Zerreißproben zwischen Gehorsam vor den Göttern und der Verbundenheit durch Familie oder Liebe – kaum beleuchtet waren. Aus den klaren wie edlen Gesangslinien Linard Vrielinks schimmert Lauterkeit und kultivierter Schönheitssinn. Den hat auch Magdalena Kožená starker, edler, heller Mezzo. Sie verfügt über das goldrichtige Gespür für die rhetorische Energie der Musik, nimmt diese immer auf der Linie von Ausdruck und logischem Antrieb. Eine meisterhafte Leistung, mit der sie in dieser Hosenrolle den beiden großen Frauenpartien weitaus überlegen ist.

Szenenbild aus „Idomeneo“ an der Staatsoper Unter den Linden
Szenenbild aus „Idomeneo“ an der Staatsoper Unter den Linden

Kein volles Sängerglück

Das liegt daran, dass Anna Prohaska seit ihrer „Titus“-Vitellia bei den Salzburger Pfingstfestspielen 2021 dem rein lyrischen Spektrum entwachsen ist und Olga Peretyatko mit den aus ihrem Donizetti-Repertoire übernommenen Koloratur-Routinen der abgründigen Elettra vieles schuldig bleibt. Prohaska zeigt Sensibilität und Wärme, doch ihre Stimme widersetzt sich inzwischen dem sanften Bachlauf von Ilias Kantilenen und verrät Sehnsucht nach dramatischeren Partien. Peretyatko dagegen richtet sich in der lyrischen zweiten Arie bestens ein und verkriecht sich in einem Schneckenhaus aus Piano-Tönen vor Mozarts furiosen Noten-Gewittern für Elettras brechende Seelendämme. Andrew Staples fängt nach dem Seesturm und Idomeneos Ankunft am Heimatstrand imponierend stark an. Die Rezitative haben innere Kraft auch in leiseren Dimensionen, die erste Arie packt. Später, wenn die Hürde von „Fuor del mar“ genommen ist, büßt Staples ein wenig an dramatischer Energie ein, was angesichts der von Rattle mit starker, aber leiser Emotion gefüllten Begleitung schade ist. Florian Hoffmann als Oberpriester, Jan Martinek als die das Schicksalsblatt wendende Götterstimme und das Quartett der Kreterinnen und Trojaner setzen schöne staatsopernwürdige Akzente.

Staatsoper unter den Linden Berlin
Mozart: Idomeneo

Sir Simon Rattle (Leitung), David McVicar (Regie), Vicki Mortimer (Bühne), Gabrielle Dalton (Kostüme), Colm Seery (Choreografie), Paule Constable (Licht), Martin Wright (Chöre), Benjamin Wäntig, Elisabeth Kühne (Dramaturgie), Andrew Staples, Magdalena Kožená, Anna Prohaska, Olga Peretyatko, Linard Vrielink, Florian Hoffmann, Jan Martiník, Marie Sofie Jacob, Ekaterina Chayka-Rubinstein, Johan Krogius, Friedrich Hamel, Staatsopernchor, Mouvement Group, Staatskapelle Berlin

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