Der italienische Avantgarde-Messias Romeo Castellucci gibt sich einmal mehr mit extremer Bildungsbeflissenheit. Und er setzt in den Überlegungen zu seiner szenischen Universalarbeit einmal mehr viele Konjunktive. Wieder gibt es Gedenksäulen an Verblichene wie in seinem Münchner „Tannhäuser“ und wieder sind die Berührungen zwischen den Geschlechtern sowohl visuell wie moralisch recht blutig. Das hätte es laut Joseph Gregors Textbuch nicht gebraucht beim Tod des Leukippos, dem naiven Freund der kontaktscheuen und asexuellen Nymphe Daphne.
Gewissensbrocken mit schöner Musik
Richard Strauss‘ „Daphne“ ist ein ziemlich schwerer Gewissensbrocken. Uraufgeführt am 15. Oktober 1938 in der Semperoper Dresden unter Karl Böhm, gerät sie zum glänzenden Beweis für die im Jubiläumsjahr 2014 zum 150 Geburtstag des Komponisten geschlussfolgerte Rechtfertigung: Strauss‘ Flucht in die Schönheit sei sein ureigenes Mittel des inneren Widerstands gegen das NS-Regime. Aber nicht nur das Münchner Forschungsprojekt „Bayerische Staatsoper 1933-1963“ stellte fest: „Richard Strauss hat das System für sich ausgenutzt“. Der „letzte Romantiker“ lieferte in seinen nach 1935 entstehenden Opern Opportunes für das Nazi-Regime. Das interessierte an der Staatsoper Unter den Linden Berlin in der Konzeption weder Castellucci noch sonst-wen.
Orchestrale Vermeidungsstrategie
Von Mitschuld an der sensitiven Mattheit dieses Abends kann man die Staatskapelle Berlin und dem seit Daniel Barenboims Rücktritt an der Lindenoper noch wichtigeren Thomas Guggeis nicht ganz freisprechen. Es gibt sehr schöne Bläserkombinationen am Premierenabend. Wenn es aber ans erotisch, emotional und enigmatisch Eingemachte geht zwischen dem schuldig werdenden Licht- und Lyrik-Gott Apollo, dem liebevoll begehrenden Leukippos und der spröden Nymphe, hört man so gut wie nichts von Strauss‘ marktschreiender Musikpotenz und ihrer Ummäntelung durch lyrischen Rausch. Bewusste Distinktion kommt bei dieser „bukolischen Tragödie“ in Berlin vor allem bisslos. Die Flucht nach vorn in die Brüche der trotz allem meisterhaften Partitur wurde verschenkt. Sensationell: So flockig, heftig, sanft und leise rieselte lange kein Theater-Schnee vom Schürboden. Die Hirten kommen demgemäß in Skianzügen. Naheliegend war deshalb auch, dass von erotischer Erhitzung mehr gesungen wurde, als dass man diese ausagierte. Nur Daphnes Eltern Peneios (René Pape) und Gaea (Anna Kissjudit) mahnen zu korrekter Erfüllung der sinnlichen Riten. Mit dieser Glamourbesetzung gerät das effektvoll. Pape und Kissjudit erweisen sich als charismatische Moral-Konservative.
Raffiniert leicht: Die Besetzung der beiden großen Tenorpartien
Auf raffinierte Weise leicht gerät die Besetzung der beiden großen Tenor-Partien. Magnus Dietrich als Daphnes pastoraler Sandkasten-Freund Leukippos, Pavel Černoch als hier gar nicht so toxischer Gott ähneln sich. Černoch ist leichtgewichtiger als prominente Partien-Vorgänger wie James King oder Paul Frey. Dietrich dagegen steht in seiner Verkleidungsszene neben den vital-satten Dienerinnen von Evelin Novak und Natalia Skrycka stimmlich auf fast verlorenem Posten. Ihm spielt Castellucci mit viel Blut aus der Urne einer allen „Er“s und „Sie“s unseres Planeten gewidmeten Grabsäule ganz übel mit. Dieses Rot auf weißem Schnee gerät visuell zwar bildschön, in der inhaltlichen Aussage aber dezent unappetitlich. In Castelluccis Winter-Apokalypse klingen die vier Hirten von Arttu Kataja, Florian Hoffmann, Roman Trekel und der Chor bemerkenswert pulsierend und warm. Evelin Facchinis Choreografie gerät zu simpel für das apokalyptische Frostfestspiel.
Wunderbar: Vera-Lotte Boecker
Feuer und Eis, Lava und Diamant durch und durch aber ist Vera-Lotte Boecker in der Titelpartie. Daphne umarmt als einzige den Schnee und den vielleicht letzten Baum des vereisenden Kontinents. Was Castellucci aber als Vereinigungssucht mit der Erde unter der Schneedecke meint, gerät zur fast obszönen Halbnacktheit. Daphne kommt nicht einmal durch ihre Verwandlung in einen Lorbeer zum besseren Sein. Castellucci nennt Franz von Assisi als symbolisches Äquivalent zu Daphnes Erdverbundenheit. Aber man sieht eine mit ihren Raffinessen auf Expertinnenniveau angelangte wie erbarmenswerte Borderlinerin. Es ist faszinierend, wie Vera-Lotte Boecker schon beim extrem anspruchsvollen Partiendebüt eine fast makellose Leistung bietet. Umso mehr, weil von ihr sportiver Totaleinsatz und schwebende Tön in höchsten Lagen ohne Pause gefordert werden. Es tut gut, dass der emotionale Hochsprung Daphnes von einem weniger sphärischen als körperlichen Höhensopran gesungen wird. Vera-Lotte Boecker geht an Grenzen und wird so zum mitreißend ehrlichen Mittelpunkt dieser Premiere. Und sie gibt Castelluccis menetekelnder Frostpassion sogar etwas echte Wärme!
Staatsoper unter den Linden Berlin
R. Strauss: Daphne
Thomas Guggeis (Leitung), Romeo Castellucci (Regie, Bühne, Kostüme & Licht), Maxi Lehmann (Mitarbeit Regie), Evelin Facchini(Choreographie), Piersandra Di Matteo, Jana Beckmann (Dramaturgie), Vera-Lotte Boecker, Magnus Dietrich, Pavel Černoch, René Pape, Anna Kissjudit, Arttu Kataja, Florian Hoffmann, Roman Trekel, Friedrich Hamel, Evelin Novak, Natalia Skrycka, Staatsopernchor, Staatskapelle Berlin