Das Altern ist ein faszinierender Prozess. Es verändert unser Erscheinungsbild, lässt die Farben verblassen, bringt Falten hervor. Jugendlicher Überschwang weicht der Fähigkeit, bedacht zu handeln. Jeder macht diese Erfahrung, ob jung oder alt. Vor allem aber zwingt das Alter zu Entscheidungen und dazu, dem Unvermeidlichen mit Würde zu begegnen. Diese Einsicht trägt die Fürstin Feldmarschallin in Richard Strauss’ „Der Rosenkavalier“ von Beginn an in sich. Sie bildet den wehmütigen Kern eines schelmischen Stücks, den Regisseurin Lydia Steier in Zürich mit Nachdruck als Prozess gestalterischen Werdens hervorhebt.
In der Eröffnungsproduktion von Matthias Schulz’ Intendanz an der Oper Zürich – der ehemalige Berliner Staatsopernchef tritt hier sein neues Amt an – lässt Steier Strauss’ Rokoko-Hommage in süßlich-heiteren Farben überborden. Ihr Szenario wirkt wie ein permanenter Prozess der Überzeichnung: Möbel und Kostüme, zunächst noch dem Amalgam aus barocker Opulenz und galantem Zopfstil verpflichtet, wandeln sich bei Faninals Verlobungsfeier in bürgerliche Klassik à la Beethoven und militärische Napoleon-Uniformen mitsamt Zweispitz. Im dritten Akt treibt die Farce ihren Höhepunkt: Stilebenen überlagern sich willkürlich, moderne Anspielungen mischen sich hinzu, ein ästhetischer Konflikt bricht offen hervor.

Makabre Phantasmagorien
Doch nicht nur das Bühnenbild entfaltet fantastische Züge. Mäuse mit Totenschädeln, maskierte Diener im Stil der Commedia dell’arte oder nackte Männer mit Windeln und Louis-XIV.-Perücken, die vom Kronleuchter hängen: Steiers makabre Figuren bevölkern das Schlafzimmer Octavians und der Marschallin, das im blauen Licht zur Sphäre des Unwirklichen gerät. Ein Ort der Lüste und Träume, zugleich aber auch politisch aufgeladen, in einer Epoche, in der noch vom Bett aus regiert wurde.
Äußerlich blickt Steier auf den „Rosenkavalier“ mit den bunten Augen eines Achim Freyer, innerlich mit jenen Gottfried Helnweins, der auch für das gesamtkünstlerische Konzept verantwortlich zeichnet. Dessen hyperrealistische Darstellungen verwundeter Kinder werden zum Spiegel verletzlicher Erwartungen und zu eben jenem Vanitas-Prozess des unaufhaltsamen Werdens – ebenfalls dargestellt mit Schädeln in Kristallschliff, die die Kronleuchter zieren oder greise Schattenfiguren, die die Bühne durchschreiten.

Bildsprache, die zum lustvollen Flanieren einlädt
Ob nun blauer Boudoirtraum, gelber Hochzeitsalbtraum oder bordeauxroter Satinrealismus: Nicht alle Einfälle erschließen sich sofort, doch überfrachten sie das Stück nicht – vielmehr laden sie zum voyeuristischen Flanieren ein.
Musikalisch übernimmt Joana Mallwitz die Führung mit kompromissloser Energie. Die Chefin des Konzerthausorchesters Berlin stürzt sich in Strauss’ Partitur, spült die Musik mit weiter Geste in den Raum und richtet das Tempo exakt nach der Sprachgeschwindigkeit der Akteure aus. Kürze mit Würze, keine Tableaus wagnerianischer Epik, in der die Zeit durch die Schönheit des überhöhten Klangs erwürgt wird. Nur im Liebesduett von Octavian und Sophie sowie im finalen Terzett gönnt sie der Musik dramatische Fülle – an diesen Stellen entscheidet sich das Schicksal aller Akteure – hier sorgt Mallwitz mit lyrisch überhöhten Bremsschwellen für gewaltig harmonischen Blutzucker.

Spitzensänger im Stresstest
Eine derart vitale Lesart verlangt Sängerinnen und Sänger von gleicher Präzision. Diana Damrau gestaltet die Marschallin mit feinem Gespür für Nacht, Lust und Melancholie. Obwohl Strauss wie Steier ihr wenig Raum lässt, findet sie im dritten Akt als leichenblasse Maria Theresia im eisvogelblauen Reifrock zu einer zarten, alles versöhnenden Klimax. Bo Skovhus bleibt als eitler Faninal etwas blass. Dafür glänzt Günther Groissböck in seiner Paraderolle als Baron Ochs: schweinisch und schwach zugleich, zwischen Lächerlichkeit und Menschlichkeit balancierend, mit nur wenigen Schwächen im Bassfundament.
Zur wahren, sängerdarstellerischen Überraschung des Abends wird Angela Brower. Ihr Octavian, zunächst widerwillig als Rosenkavalier, später zunehmend mitleidsvoll für die gequälte Sophie, trägt ein nuanciertes, stimmlich wie darstellerisch packendes Profil. Emily Pogorelc setzt als Sophie zunächst viel Vibrato ein, steigert sich dann aber zu berückender Klarheit.
So gerät dieser neue Zürcher „Rosenkavalier“ zu einem kleinen Triumph. Steiers Inszenierung reizt gleichsam die Grenzen des Grotesken wie kindlich Naiven aus, Mallwitz hält die Zügel fest in der Hand, das Orchester der Oper Zürich überzeugt mit arrivierter Perfektion. Und das Publikum geht nach Hause mit einer Erkenntnis, die auch Strauss’ Marschallin beherzigt: Wenn das Alter Entscheidungen erzwingt, trage die Wehmut mit Fassung und mit Humor.
Oper Zürich
R. Strauss: Der Rosenkavalier
Joana Mallwitz (Leitung), Lydia Steier (Regie), Gottfried Helnwein (Austattung, Bühne & Konzept), Elana Siberski (Licht), Tabea Rothfuchs & Ruth Stofer (Video), Tabatha McFadyen (Choreografie), Klaas-Jan de Groot (Chor), Diana Damrau, Günther Groissböck, Angela Brower, Bo Skovhus, Emily Pogorelc, Chor und Kinderchor der Oper Zürich, Orchester der Oper Zürich
Termintipp
Fr., 26. September 2025 18:00 Uhr
Musiktheater
R. Strauss: Der Rosenkavalier
Diana Damrau (Die Feldmarschallin), Günther Groissböck (Baron Ochs auf Lerchenau), Angela Brower (Oktavian), Bo Skovhus (Herr von Faninal), Emily Pogorelc (Sophie), Christiane Kohl (Jungfer Marianne Leitmetzerin), Nathan Haller (Valzacci), Irène Friedli (Annina), Joana Mallwitz (Leitung), Lydia Steier (Regie)
Termintipp
Mi., 01. Oktober 2025 18:00 Uhr
Musiktheater
R. Strauss: Der Rosenkavalier
Diana Damrau (Die Feldmarschallin), Günther Groissböck (Baron Ochs auf Lerchenau), Angela Brower (Oktavian), Bo Skovhus (Herr von Faninal), Emily Pogorelc (Sophie), Christiane Kohl (Jungfer Marianne Leitmetzerin), Nathan Haller (Valzacci), Irène Friedli (Annina), Joana Mallwitz (Leitung), Lydia Steier (Regie)
Termintipp
So., 05. Oktober 2025 17:00 Uhr
Musiktheater
R. Strauss: Der Rosenkavalier
Diana Damrau (Die Feldmarschallin), Günther Groissböck (Baron Ochs auf Lerchenau), Angela Brower (Oktavian), Bo Skovhus (Herr von Faninal), Emily Pogorelc (Sophie), Christiane Kohl (Jungfer Marianne Leitmetzerin), Nathan Haller (Valzacci), Irène Friedli (Annina), Joana Mallwitz (Leitung), Lydia Steier (Regie)
Termintipp
Di., 14. Oktober 2025 18:00 Uhr
Musiktheater
R. Strauss: Der Rosenkavalier
Diana Damrau (Die Feldmarschallin), Günther Groissböck (Baron Ochs auf Lerchenau), Angela Brower (Oktavian), Bo Skovhus (Herr von Faninal), Emily Pogorelc (Sophie), Christiane Kohl (Jungfer Marianne Leitmetzerin), Nathan Haller (Valzacci), Irène Friedli (Annina), Joana Mallwitz (Leitung), Lydia Steier (Regie)
Termintipp
Fr., 17. Oktober 2025 18:00 Uhr
Musiktheater
R. Strauss: Der Rosenkavalier
Diana Damrau (Die Feldmarschallin), Günther Groissböck (Baron Ochs auf Lerchenau), Angela Brower (Oktavian), Bo Skovhus (Herr von Faninal), Emily Pogorelc (Sophie), Christiane Kohl (Jungfer Marianne Leitmetzerin), Nathan Haller (Valzacci), Irène Friedli (Annina), Joana Mallwitz (Leitung), Lydia Steier (Regie)