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Ballett-Kritik: Staatstheater Braunschweig – Siegfried – Eine Bewegung

Masse mit Anti-Held

(Braunschweig, 29.10.2022) Mit der prägnanten Partitur von Steffen Schleiermacher und der tänzerischen Verve der Kompagnie von Gregor Zöllig ist die Choreographie zwar keine Alternative zu Wagners Musikdrama, als Tanztheater gewinnt „Siegfried – Eine Bewegung“ indes eigene Kraft.

vonRoland H. Dippel,

Eigentlich naheliegend. In den letzten Jahren gab es immer wieder Produktionen von Richard Wagners Bühnenfestspiel „Der Ring des Nibelungen“, bei dem der Vierteiler mit 15 Stunden Musikdauer nicht von einer Regie-Handschrift, sondern von vier geprägt wurde. Nur noch ein Schritt weiter und man verzichtet auf zwei Teile der Originalpartitur wie in dieser Spielzeit das Staatstheater Braunschweig. Diese Lücken bereichert man um zeitgenössische Artefakte, die den Nibelungenmythos und Richard Wagners Vision vom Untergang einer Welt, ihrer politischen Systeme und natürlichen Grundlagen weiterdenkt. Die Dramaturgie des Staatstheaters Braunschweig nennt das unter dem Projekttitel „Ausweitung des Ringgebiets“ die „Gebrochenheit und Heterogenität als Modell einer Gesellschaft in Transformation“. Operndirektorin Isabel Ostermann setzte mit drei Schauspielern Ausschnitte aus Thomas Köcks neuem Bühnentext „wagner – der ring des nibelungen (a piece like fresh chopped eschenwood)“ in ihre „Rheingold“-Inszenierung und hinterfragte die göttlichen Gesellschaften damit auf deren bestehende oder erloschene Relevanz.

Szenenbild aus „Siegfried – Eine Bewegung“
Szenenbild aus „Siegfried – Eine Bewegung“

Gebrochenheit statt Gesamtkunstwerk

In vertauschter Reihenfolge gibt es ab 16. März 2023 die Uraufführung „Die Walküren“ von Caren Jeß, Wagners originales Schlussstück „Götterdämmerung“ folgt ab 3. Juni2023. Das Substitut für „Siegfried“, den zweiten Tag des Bühnenfestspiels, bildet jetzt ein Beitrag des Tanztheaters mit Auftragskomposition: „Siegfried – eine Bewegung“. Für die Komposition hatte man Steffen Schleiermacher, den in Leipzig lebenden Komponisten, Pianisten und Leiter der Gewandhaus-Konzertreihe „musica nova“ eingeladen.

Szenenbild aus „Siegfried – Eine Bewegung“
Szenenbild aus „Siegfried – Eine Bewegung“

Den Tanz beflügelnde Musik

Schleiermacher (Jahrgang 1960) hält sich in deutlichem Abstand zu den meisten Schulen der Neuen Musik und „-ismen“ der Gegenwartsmusik, aber auch vom Kosmos Richard Wagners. Nach eigenen Angaben würde Schleiermacher dessen Gesamtaufführung gar nicht durchhalten. Er unternahm einige Anleihen aus dem originalen „Siegfried“, um Brücken zum Anlass-Werk zu schlagen. Schleiermacher selbst schlägt vor, diese klanglichen Anleihen zu seiner genau 80-minütigen Partitur bei Bartók, Strawinsky und Varèse zu finden – eine erfolgreiche Suche selbstverständlich vorausgesetzt. Die synkopischen Rhythmus-Konstrukte der in enger Koordination mit Tanzdirektor Gregor Zöllig entstandenen Partitur sind denn auch toller, griffiger Qualitätstreibstoff für den Choreographie-Motor. Aus diesem blitzen nicht nur Wagners klangliche Schwert- und Mime-, sondern sogar die lastenden „Götterdämmerung“-Signaturen heraus. Schleiermachers Rhythmus treibt mehr an als bei Wagner und beflügelt die wesentlich an der Entstehung der Tanzszenen beteiligte Kompagnie.

Szenenbild aus „Siegfried – Eine Bewegung“
Szenenbild aus „Siegfried – Eine Bewegung“

Klimawandel als Konzeptschwerpunkt

Bei Wagner gibt es in „Siegfried“ bekanntermaßen keine Massenszenen, in Zölligs Neudeutung viele. Da stößt der „hehrste Held der Welt“ und Wotans Wunsch-Weltretter auf eine junge Gruppe, welche die Vergehen und Versäumnisse ihrer Vorfahren kitten will. Dass der Drache eine symbolische Akkumulation eigener Defizite und Ängste, der Sieg im Drachenkampf eine glückliche Selbstbewährung und Selbstfindung sein kann, wusste bereits die Psychologie des frühen 20. Jahrhunderts. An diesem Punkt der von Zöllig anders gepolten „Siegfried“-Handlung beginnen die zwei Drittel des Abends umfassenden Gruppenszenen: Dynamisch, sportlich und mit spannenden Bewegungsfolgen vollzieht sich Siegfrieds Kampf und Ehrgeiz zur Aufnahme in die Gruppe, welche den Untergang stoppen will. Auch in Braunschweig wird der Klimawandel zum ganz weit oben rangierenden Konzeptschwerpunkt der gerade begonnenen Spielzeit. Also mündet die Siegfried-Bewegung nicht in ein Tanzfinale, sondern in einen Unterwasserfilm. Mit ganz unterschiedlichen Stimmungen gleiten die Menschen zwischen den CO2-Blasen dahin, bis Siegfried auch dort auf Brünnhilde trifft. Göttervater Wotan ist hier eine Frau (Nao Tokuhashi), wodurch Siegfrieds Sehnsucht nach der unbekannten Mutter auch eine tänzerische Dimension hätte erhalten können. Das war aber nicht angedacht. Betreffend physische Materialien gibt sich die Produktion umweltbewusst. Hank Irwin Kittel zeigt Natur nur noch auf Bahnen von Fototapeten, welche auf Betonmauern geklebt oder von diesen abgerissen werden. Julia Burkardts Kostüme, angelehnt an Trainingskleidung, geben den Tänzern Individualität. Trotz der vielen Gruppentänze wirken die wenigen Duo- und Soloszenen weitaus eindrucksvoller. Hier kommt Zöllig zu Bewegungsfolgen, welche mit Mitteln des Tanzes Wagners subtile Psychostrukturen in ziel- und treffsichere Bewegungen transformieren.

Szenenbild aus „Siegfried – Eine Bewegung“
Szenenbild aus „Siegfried – Eine Bewegung“

Der Einzelkämpfer Siegfried und sein Aufgehen in der Gruppe

Wie bei Aufführungen von „Siegfried“ keine Seltenheit, gerät die spannungsreiche Beziehung Siegfrieds zu seinem Ziehvater Mime noch spannender als die Begegnung Siegfrieds mit der ihm durch Wotan vorbestimmten Brünnhilde. Wenn Brünnhilde einmal sogar Siegfried hebt und angewinkelte Knie immer wieder die körperliche Harmonie der beiden verhindern, zeugt das vom schnellen Scheitern der Beziehung. Bei Mime und Siegfried gelangt Zöllig durch die physische Verausgabung von Joshua Haines zu einem schon bizarren Gefühlsgeflecht mit sadomasochistischen Bedingtheiten. Mime bewundert und instrumentalisiert Siegfried. Mátyás Ruzsom klammert und entklammert sich als gut gebauter Kerl und emotionaler Lebenslehrling in dieser ersten großen Szene mit einer Intensität, die er später in der Gruppe und mit Brünnhilde nicht mehr finden wird. Das liegt auch an dem massiven Schrittmaterial, aufgrund dessen Siegfried viel zu schnell in der Gruppe aufgeht. Das Kämpfen und die Ängste vor der neuen Gemeinschaft ereignen sich ohne allzu große Spannungs- und Erregungszustände, die Mátyás Ruzsom zur Auseinandersetzung mit Mime noch in beklemmende Regungen überführte.

Szenenbild aus „Siegfried – Eine Bewegung“
Szenenbild aus „Siegfried – Eine Bewegung“

Als Tanztheater mag dieser bewegte Siegfried zu überzeugen, als Alternative zu Wagner trotz der auch in den lauten Orchestereruptionen steckenden Subtilität weitaus weniger. Deutlich wird aber die Wahllosigkeit einer jungen Generation, die sich am Scherbenhaufen des Ökosystems und einem maroden Gesellschaftsvertrag reiben muss. Mit körperlicher Impulsivität geht die Gruppe dagegen an. Das wirkt virtuos, aber auch monolithisch. Das Publikum war begeistert von der tänzerischen Verve und einer prägnanten Partitur, die Generalmusikdirektor Srba Dinić und das Staatsorchester Braunschweig mit Lust an Farben und Klangreichtum aus der Taufe hoben. Bei der Premiere wurden das Werk, das Orchester und das Tanzensemble vom Publikum lautstark gefeiert.

Staatstheater Braunschweig
Schleiermacher: Siegfried – Eine Bewegung. Tanztheater. Auftragswerk des Staatstheaters Braunschweig. Uraufführung im Ringprojekt „Ausweitung des Ringgebiets“

Srba Dinić, Alexis Agrafiotis, Mino Marani (Musikalische Leitung), Gregor Zöllig (Inszenierung & Choreografie), Hank Irwin Kittel (Bühne), Julia Burkhardt (Kostüme), Steffen Schleiermacher (Musik), Konrad Kästner (Video), Ira Goldbecher (Dramaturgie), Nao Tokuhashi, Mátyás Ruzsom, Joshua Haines,Lotta Sandborgh, Michael D‘ Ambrosio, Filipa Amorim, Alice Baccile, Fenia Chatzakou, BrendonFeeney, Yuri Fortini, Giovanni Fumarola, María Gabriela Luque, Dariusz Nowak, Rei Okunishi, Francesca Castellari, Beatrice Ieni, Mikaela Kos, Staatsorchester Braunschweig

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