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Konzert-Kritik: Joshua Bell in der Elbphilharmonie

Man hat sich gefunden

(Hamburg, 18.1.2024) Traute Dreisamkeit: das NDR Elbphilharmonie Orchester, Ryan Bancroft und Joshua Bell mit Chausson, Vieuxtemps und Zemlinsky.

vonMaximilian Theiss,

Ernest Chausson getraute sich nicht recht, für den großen Virtuosen Eugène Ysaÿe ein ganzes Violinkonzert zu schreiben, und beließ es bei einem „Poème“ – einem Musterbeispiel dafür, wie bezaubernd und mitreißend etwas sein kann, das nicht Fisch und nicht Fleisch ist: improvisatorisch, aber formgebunden, virtuos, aber zurückgenommen, Leichtigkeit und Melancholie. Die Uraufführung an der Schwelle zum 20. Jahrhundert nahm das Publikum in Nancy mit wohlwollender Gleichgültigkeit auf, in Paris feierte man jedoch bald darauf das Stück.

125 Jahre später ist man in der Elbphilharmonie ebenfalls begeistert, was auch am aktuellen Artist in Residence Joshua Bell liegt. Den hat das Publikum hier gleich zu Beginn der Saison nach Tschaikowskys Violinkonzert sowie der Uraufführung der Suite „Elements“ lieben gelernt. Und auch was das Zusammenspiel von Bell und dem NDR Elbphilharmonie Orchester anbelangt, konstatiert man ohne Umschweife: It’s a match! Der große Violinist unserer Zeit, der sich mit seiner Stradivari auch mal als Straßenmusiker in einer U-Bahn-Station verdingt und bei seinen Auftritten das schwarze Hemd aus der Hose hängen lässt, ist in den besten Momenten eins mit den Musikerkollegen auf der Bühne. Das beginnt beim ersten Ton des „Poème“, der sich zaghaft aus dem Klangkörper herausschält, und endet bei der Zugabe, für die er die Solo-Harfenistin Anaëlle Tourret mit auf die Bühne bittet.

Mit Bancroft gehen kurz mal die Pferde durch

Die schlichte Noblesse von Solist und Orchester geht auch in Momenten höchster musikalischer Erregung nicht verloren und setzt sich in Henry Vieuxtemps fünftem Violinkonzert fort. In den virtuosesten Passagen wirkt es, als wende man auf der Bühne achtzig Prozent Kraft für hundertzwanzig Prozent Musik auf, woran Ryan Bancroft wesentlichen Anteil hat. Der Dirigent aus Los Angeles sieht Fortepassagen nicht als Frage der Lautheit, sondern als eine der Kraft in der Tonfärbung an. Und mit Klangfarben spielt er passagenweise fast schon übermütig, wenn er die einzelnen Instrumentengruppen mal hervorhebt, mal miteinander wie ein experimentierfreudiger Magier amalgamiert.

Dafür ist die Musik von Chausson, der sich so stark von der Klangwelt Richard Wagners beeinflussen ließ, auch wie geschaffen, und erst recht ist es Alexander von Zemlinskys Fantasie „Die Seejungfrau“. In dieser verkappten sinfonischen Dichtung über das Märchen von Hans Christian Andersen verliebt sich eine Meerjungfrau unglücklich in einen Menschenprinzen. Da schaffen die Streicher mit dickem Bogenstrich und sattem Klang märchenhafte Unterwasserwelten, Holzbläser tonmalern Lichtbrechungen im Wasser, bis es im Mittelteil um Leben und Tod geht. Dann gehen aber auch Bancroft kurz mal die Pferde durch, und er lässt den Klangkörper die Schwelle zum ohrenbetäubenden Lärm überschreiten. Schnell kehren aber die Musiker wieder zurück zu ihrem bezwingenden erzählerischen Duktus. Bancroft verzichtet übrigens auf einen Dirigierstab, scheint die Musik allein mit seinen Händen zum formen – und verschmilzt wie auch Joshua Bell mit dem Orchester.

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