Als Riccardo Chailly im Alter von nur 21 Jahren als Assistent von Claudio Abbado an der Mailänder Scala seinen ersten großen Karriereschritt tat, war er entschlossen, den interpretatorischen Möglichkeiten von Musik neuen Ausdruck zu verleihen. Chailly wollte Interpret im wahrsten Sinne werden. Sein Interesse, verschiedene Facetten einer Komposition erfahrbar zu machen, sollte ihn wenig später an die Dirigierpulte der renommiertesten Orchester weltweit führen, das musikalische Auge immer einen Schritt über die Gegenwart hinaus gerichtet, die Zukunft fest im Blick.
Jenes gestalterische Interesse packte den in Mailand geborenen Chailly bereits während des Klavierunterrichts bei seinem Vater Luciano, der als Komponist seinen immer neugierigen Sprössling früh an den Klang eines klassischen Orchesters heranführte. Das Kompositionsstudium am Konservatorium seiner Heimatstadt war die logische Konsequenz, seinem Wunsch zu entsprechen, neue musikalische Impulse zu setzen. Die Frage nach einem anderen Berufsweg als dem eines Dirigenten stellte sich ihm nicht. In seiner Zeit als Assistent lernte er von Abbado, seine Pläne vor allem mit Ruhe und Weitsicht anzugehen – Tugenden, die seine Arbeitsweise bis heute kennzeichnen.
Der Tradition verpflichtet
Als Chailly ab 1974 regelmäßig an den großen Opernhäusern von Mailand bis New York zu dirigieren begann, war ihm bewusst, auf Klangkörper zu treffen, die sich gänzlich durch ihre kulturellen und musikalischen Backgrounds unterschieden. Durch sein freundlich-ruhiges Naturell verstand er es, jedem dieser Orchester respektvoll zu begegnen und dennoch sein Vorhaben umzusetzen, die Interpretationsgeschichte der klassischen Musik weiterzuspinnen, nicht stehen zu bleiben und trotzdem althergebrachte Traditionen fortzuführen.
In zahlreichen Interviews sprach Chailly stets warmherzig davon, in erster Linie dem Orchester dienen zu wollen, was in seinen Konzerten hautnah erfahrbar wird. Ganz anders nämlich als man es bei einem derart ausgeglichen wirkenden Menschen vermuten würde, dirigiert Chailly voller Hingabe, mit weit aufgerissenen Augen und teilweise wild gestikulierend. Zahlreiche Filmaufnahmen belegen eindrucksvoll, dass er dabei kaum verbergen kann, wie sehr er von dem klanglichen Ergebnis überzeugt ist. Keine Frage, Chailly lebt und liebt seinen Job.
Riccardo Chailly: Zwischen Klassikern und Zeitgenossen
Im Jahr 1988 übernahm er den Posten des Chefdirigenten des Concertgebouw-Orchesters in Amsterdam, mit dem er voller Leidenschaft in den anschließenden sechzehn Jahren seiner Amtszeit, jenes auf Tradition beruhendes und dennoch zukunftsorientiertes Streben umsetzte. So führte er die lange Bruckner- und Mahler-Verbundenheit des Orchesters fort, erweiterte das Repertoire jedoch ebenfalls um zeitgenössische Kompositionen und brachte italienische Opernwerke in den Kanon des Klangkörpers ein. Ganz ohne die großen Melodien seiner Heimat kann der Vollblutitaliener dann eben doch nicht.
Auch seine Zusammenarbeit mit dem Gewandhausorchester ab 2005 war geprägt von der Fortführung einer jahrelangen Orchestertradition und dem Ansporn, den einzigartigen Klang zu erhalten. Anderseits versuchte Chailly zudem, die Offenheit und Flexibilität der Musiker in Bezug auf Neue Musik zu steigern. Gelungen ist ihm mit seiner gelassenen konzentrierten Art beides.
Fast beiläufig bewirkte Chailly sogar, den auf Bruno Walter zurückgehenden Mahler-Schwerpunkt des Gewandhausorchesters weiter zu vertiefen und den Klangkörper als weltweite Referenz für die Sinfonik Mahlers zu etablieren. Die Aufgabe des Gewandhauskapellmeisters wurde für Chailly zur Herzensangelegenheit – Musiker und Publikum dankten es ihm.
Heute wird Riccardo Chailly, der im Januar 2015 als Musikdirektor an die Mailänder Scala, dem Ort seines Karrierestarts, zurückkehrte, fünfundsechzig Jahre alt. Seine künstlerisch-musikalische Vision und sein Gespür für das Aufrechterhalten von kulturellen Traditionen macht ihn heute zu einem der bedeutendsten Dirigenten der Gegenwart – die Zukunft jedoch schon fest vor Augen.
Riccardo Chailly und das Gewandhausorchester Leipzig mit Mahlers Sinfonie Nr. 6: