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Interview Alan Gilbert

„Letztlich geht es um das sinnliche Erlebnis“

Alan Gilbert über die Balance zwischen Traditionsbewusstsein und Experimentierfreude, neue Herausforderungen – und darüber, was Kochen mit Dirigieren gemeinsam hat.

vonMaximilian Theiss,

Orchester und Dirigent kennen sich schon lange, und doch glich die Bekanntgabe, dass Alan Gilbert ab diesem Herbst Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters ist, einer Sensation.

Ihre Antrittskonzerte im September sind mit „Klingt nach Gilbert“ überschrieben. Wie klingt denn Alan Gilbert?

Alan Gilbert: Ich wusste, dass diese Frage kommen würde (lacht)! Vielleicht hätten wir das Festival zur Saisoneröffnung, die meine erste Saison als Chefdirigent sein wird, „Klingt nach uns“ benennen sollen. Denn es geht um uns als Einheit, um das NDR Elbphilharmonie Orchester und seinen Dirigenten und unsere Art des Musizierens. Die Programme haben wir bewusst sehr vielseitig gestaltet, um unsere musikalische Bandbreite zu zeigen. Das entspricht meinem Selbstverständnis als Musiker – ich halte mich nicht für einen Spezialisten etwa für zeitgenössisches oder französisches Repertoire –, aber auch dem Selbstverständnis des Orchesters. Es ist sicher kein Zufall, dass viele der Musiker, die ich bewundere, musikalisch ebenfalls in die Breite dachten oder denken.

Um welche Musiker handelt es sich dabei?

Gilbert: Künstler wie Bernstein, Yo-Yo Ma oder Itzhak Perlman – was aber auch nur jene Namen sind, die mir gerade spontan einfallen, da gibt es noch viel mehr Künstler. Ich selbst bin immer neugierig auf die unterschiedlichsten Sachen. Wenn Sie wollen, ist just diese Neugier das, was nach Gilbert klingt.

Dazu gehört auch Ihre Offenheit für Neue Musik. Freuen Sie sich schon auf die Zusammenarbeit mit Unsuk Chin, die in dieser Saison „Composer in Residence“ ist?

Gilbert: Unsuk ist eine wundervolle Komponistin und eine gute Freundin von mir, jemand, mit dem ich über eine große Zeitspanne hinweg gearbeitet habe. In ihrer Musik schwingt immer etwas Persönliches mit, als wäre es folkloristische Musik, von der man glaubt, sie käme aus einer ganz bestimmten Tradition. Aber man kann nie genau sagen, ob diese Einflüsse nun koreanisch oder deutsch oder ungarisch sind.

Sind bereits weitere Uraufführungen oder Neue-Musik-Projekte in Planung?

Gilbert: Ja, aber es ist noch zu früh, konkret über Ideen zu sprechen. Ich spüre hier ein großes Inter­esse an Neuem, an ungewöhnlichen Projekten, und finde es wichtig, dass ein Orchester sein Publikum gelegentlich auch überrascht. Wir haben viele Ideen, wie wir zum Beispiel die Elbphilharmonie nutzen können, um Musik lebendig und neuartig zu präsentieren.

Ist das in der permanent ausverkauften Elbphilharmonie einfacher als in anderen Konzerthäusern?

Gilbert: Das mag sein. Aber vor allem ist mir wichtig, eine tiefergehende Beziehung zum Publikum aufzubauen, eine Beziehung und ein Vertrauen herzustellen als Basis, sich auf neue und ungewöhnliche Programme einzulassen. Daher kommt es von Beginn an darauf an, wie wir unsere Programme gestalten. Fest steht: Für Neuartiges ist die Elbphilharmonie ein großartiger Ort und eine wundervolle Plattform für uns.

Alan Gilbert
Alan Gilbert

Müssen denn Orchester stets experimentieren und sich immer wieder neu erfinden?

Gilbert: Darauf gibt es keine einfache Antwort. Was Orchester nicht verändern sollten: Wir geben Konzerte in einem Saal und wir sitzen vor einem Publikum, das uns zuhört – dieses traditionelle Konzertmodell funktioniert nach wie vor. Aber die Menschen verbringen ihre Freizeit anders, auch ihre Einstellung gegenüber Entertainment hat sich verändert. Und durch die Möglichkeiten des Internets kann man ohne großen finanziellen Aufwand praktisch alles sehen oder hören, was man möchte. Trotzdem kenne ich keinen adäquaten Ersatz für das Live-Erlebnis, wenn Zuhörer und Musiker gemeinsam empfinden und sich derselben Sache, nämlich der Musik, vollkommen hingeben. Aber es gibt viele verschiedene Wege, wie man mit dem Publikum in Kontakt treten kann. Man kann zum Beispiel als sinfonisches Orchester auch Jazz spielen. Man muss auch gar nicht in einem Konzertsaal musizieren, sondern kann mit den Instrumenten an unerwartete Orte gehen. Wir konzertieren zum Beispiel in der kommenden Saison in einem Musicclub auf St. Pauli.

Und wo liegt dann genau der Unterschied zu einem konventionellen Konzert?

Gilbert: Die Frage ist, wie man die Menschen erreicht: Wenn man Kunst ungewöhnlich, überraschend präsentiert, kann man die Ohren der Hörer öffnen und die Menschen daran erinnern, dass Musik etwas Lebendiges ist und kein Exponat in einem Museum. Es ist wichtig, Dinge auszuprobieren. Musik erfindet sich permanent neu, ist Teil einer lebendigen menschlichen Erfahrung.

Gleich am Anfang der Spielzeit sind Sie zudem nicht nur als Dirigent, sondern auch als Bratscher in einem Kammermusikkonzert mit Musikern Ihres Orchesters zu erleben. Hatten Sie schon eine erste Anspielprobe?

Gilbert: Nein, noch nicht, aber ich freue mich schon sehr darauf. Und ich finde gerade solche Abende sehr wichtig.

Weshalb?

Gilbert: Dirigenten sagen gern: „Lasst uns diese Passage spielen wie ein Stück Kammermusik.“ Was sie damit meinen: Hört einander zu und richtet euer Spiel an demjenigen der anderen aus! Aber das sollte man eigentlich immer in einem Orchester. Und am besten lernt man diese Tugenden, indem man selbst Kammermusik macht. Außerdem lernen sich dabei die Mu­sikerinnen und Musiker und der Dirigent viel näher kennen.

Zwischen 2004 und 2015 waren Sie bereits Principal Guest Conductor des NDR Elbphilharmonie Orchesters. Wie hat sich das Ensemble seit 2015 verändert?

Gilbert: Ich denke, dass schon allein die Tatsache, jetzt eine eigene Spielstätte, eine musikalische Heimat zu haben, vieles verändert hat. Auch die Art, wie das Orchester den Saal mit Klang erfüllt, ist ganz anders, als es in der Laeiszhalle, die ebenfalls zu meinen liebsten Konzertsälen gehört, der Fall ist. Die Elbphilharmonie ist ein großartiger akustischer Raum. Es ist möglich, eine Vielzahl verschiedenartigster Klänge hervorzurufen: fein, warm, transparent, kraftvoll …

Alan Gilbert
Alan Gilbert

Christoph Lieben-Seutter, der Intendant der Elbphilharmonie, sagte, dass Ihre Vision von einem Orchester des 21. Jahrhunderts ideal zur Elbphilharmonie passt. Wie soll denn ein Orchester im 21. Jahrhundert sein?

Gilbert: Vor allem vielschichtig und vielseitig. Ein Orchester sollte eine große Bandbreite an Musik erkunden. Aber am Ende des Tages geht es um die richtige Balance – und auch um Traditionsbewusstsein.

Wie meinen Sie das?

Gilbert: Das NDR Elbphilharmonie Orchester hat eine lange Tradition. Die Mehrzahl der Bruckner-Sinfonien habe ich mit Aufnahmen von Günter Wand studiert. Diese unverwechselbare Klangkultur ist immer noch existent. Das ist ein starkes Fundament und der große Unterschied beispielsweise zu einem Projektorchester, selbst wenn die Musiker dort allesamt in traditionsreichen Orchestern spielen. Und das Schönste an der Tradition: Du verlierst sie nicht, auch wenn du Neues ausprobierst – so wie es bei „Le Grand Macabre“ der Fall war …

… einer Oper von György Ligeti, die Sie kürzlich in der Elbphilharmonie halbszenisch bzw. dreiviertelszenisch aufgeführt haben.

Gilbert: Szenisch, ohne jedwede Einschränkung! Es war eine komplette Opernaufführung, auch wenn Leute meinen, dass etwas halbszenisch ist, sobald das Orchester auf der Bühne positioniert ist! Doug Fitch (der Regisseur der Aufführung, d. Red.) hat den ganzen Saal in ein Theater verwandelt und Orchester und Chor aktiv in die Inszenierung integriert.

Zuhause kochen Sie sehr gerne. Sie haben mal erzählt, dass Sie zwar viele Kochbücher besitzen, letztlich aber in der Küche eher der improvisierende Typ sind. Gibt es da Parallelen zu Ihrer Arbeit als Dirigent?

Gilbert: (lacht) In gewisser Weise, ja. Sobald man die Grundkenntnisse des Kochens erlernt hat, muss man nicht jedes Mal überlegen, auf welche Temperatur man den Ofen schalten oder wie man die Zwiebeln vorher andünsten muss. Letztlich geht es nur um den Geschmack, um das sinnliche Erlebnis! Auch beim Dirigieren oder beim Geigenspiel denke ich weniger darüber nach, was geboten ist und was nicht. Das hat immer eine individuelle Note. Es geht um unseren eigenen Blick auf die Dinge und darum, was wir für gut interpretierte Musik halten. Ich glaube nicht, dass es ein Zufall ist, dass im Französischen das Wort für Dirigent und Koch dasselbe ist: „chef“. Beide müssen ein sinnliches Erlebnis schaffen, das lebendig und ergreifend ist.

Album Cover für
Bruckner: Sinfonie Nr. 7 NDR Elbphilharmonie Orchester, Alan Gilbert (Leitung) Sony Classical

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