Es ist wohl jenes mulmige Gefühl der Unsicherheit, jenes Auf-Sicht-Fahren im Nebel unvorhergesehener Ereignisse, das uns Rückschlüsse ziehen lässt: Wie war es einst? Wie ist es heute? Und welche Parallelen deuten sich für das Morgen an? Mag der in Debatten und Feuilletons viel bemühte Vergleich mit den 1930er-Jahren manchmal überzogen wirken, so ist die dahinterliegende Besorgnis keineswegs unbegründet.
Für Regisseur Yaron David Müller-Zach war diese Unsicherheit Anlass und Herzensthema genug, um im Rahmen des von den Symphonikern Hamburg veranstalteten Martha Argerich Festivals einen Abend zu gestalten, der sich Stefan Zweigs Autobiografie „Die Welt von Gestern“ widmete. Zusammen mit den Pianistinnen Elena Bashkirova und Olena Kushpler, der Sopranistin Talia Or, dem Schauspieler Moritz Tostmann und dem Sprecher Volker Hanisch entstand ein literarisch-musikalisches Zeitbild. Zweig schildert in seinem Werk das Aufwachsen in der scheinbar unerschütterlichen Welt der Habsburger-Monarchie. Voller Vertrauen in Fortschritt und Kultur muss er miterleben, wie zwei Weltkriege binnen weniger Jahrzehnte Gewissheiten zerstören und Europa sich von einem Ort der Kunst in einen der Barbarei wandelt.
Musikalischer Rahmen mit mahnendem Schauspiel
Zärtlich eröffneten Argerich und Bashkirova den Abend mit Franz Schuberts Rondo A-Dur – ein Werk, dessen helle Melancholie mitunter tiefer berührt als so manches Stück in Moll. Doch der Fokus lag auf Schauspiel und Lesung. Hanisch las Passagen aus Zweigs Erinnerungen: ohne Pathos oder Alarmismus. Ihm gegenüber agierte Tostmann als junger, ungestümer Zweig, der sich fragend und widersprechend durch Europa denkt. Zitate von Freud oder Kraus bis hin zu Reden von Emmanuel Macron fügten sich zu einem Bild der heute (noch) bestehenden Freiheiten und Rechte.

Kushpler und Or – tragende Säulen des Konzerts – kommentierten das Geschehen mit um 1900 entstandenen Kunstliedern, Kushpler zudem mit Klavierstücken. Werke von Richard Strauss, Schönberg, Krenek, Hindemith und Schreker offenbaren, welcher Zeitgeist, welche befreiende künstlerische Kraft jenen Tagen zugrunde lag. Das Liedduo überzeugte mit einer aufwühlenden Spannbreite zwischen spätromantischem Eklektizismus, Endzeitstimmung und aufbrechender Moderne.
Aufwühlendes Finale
Vor allem aber zeigte sich an diesem Abend die starke Wahrheit der Musik. Denn oft sagt ein Operettenschlager von Oscar Straus mehr über die unschuldige Ruhe vor dem Sturm als mahnende Worte des französischen Pazifisten Romain Rolland. Gerade die Klaviersolos Olena Kushplers – Debussys „Ministrels“ oder Bachs „Schafe können sicher weiden“ drückten unaussprechliche Wahrheiten aus. Sie fungierten als Rahmen- und Bindeglieder, die mit einer kristallinen Expressivität beinahe schauerlich mahnend in Richtung Zukunft blicken. Vielleicht auch deshalb interpretierten Argerich und Bashkirova Schuberts f-Moll-Fantasie nicht als brillantes pianistisches Glanzstück, sondern als fragiles, unsicheres, beispiellos ehrliches Gebilde. Eine Schöpfung von engelsgleicher Schönheit, zugleich durchzogen von tiefer Trauer – und in ihrer inneren Zerrissenheit ein klangliches Zerrbild jener „Welt von Gestern“. Weinend, blutend, erschrocken über sich selbst.