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Opern-Feuilleton: 200 Jahre „Der Freischütz“

Und ewig lockt die Wolfsschlucht

Vor 200 Jahren erlebte Carl Maria von Webers „Der Freischütz“ seine Uraufführung. Zahlreiche Regisseure und Dirigenten suchen seither nach neuen Lesarten der Oper.

vonRoland H. Dippel,

Ohne den Freischütz wären Opern wie Meyerbeers „Robert le diable“, Humperdincks „Hänsel und Gretel“ und vieles von Wagner nie in der vorliegenden Form entstanden. Vor fünfzig Jahren aber galt Carl Maria von ­Webers romantische Oper wegen des vermeintlich naiven Dualismus von geweihten Rosen und den vom Teufel gelenkten Freikugeln für ambitionierte Theater als degoutant. Das änderte sich erst in den vergangenen Spielzeiten. Heute zählt das Werk für Interpreten zu den kompliziertesten Herausforderungen. In der vom Festspiel zum Livestream umgeplanten Hommage im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt, das am 18. Juni 1821 als Königliches Schauspielhaus mit der Uraufführung des „Freischütz“ eröffnet worden war, verknüpfen La Fura dels Baus auf den Tag genau 200 Jahre später Naturzerstörungen mit den seelischen Blessuren des Jägerburschen Max, der „Jägerbraut“ Agathe und des sich den finsteren Mächten ausliefernden Kaspar. Im Februar 2021 ignorierte Dmitri Tcherniakov an der Bayerischen Staatsoper den Dualismus der religiösen Moralinstanzen. Die infernalischen Schreie Samiels kommen dort vom traumatisierten Kaspar (Kyle Ketelsen), und der Eremit ist ein Chefkellner, bei dem die Hauptfiguren Trost und Hoffnung suchen.

Ein romantisches Musical

Nach heutigem Verständnis komponierte Weber – wie später der Freischütz-Nachschöpfer Tom Waits mit „The Black Rider“ – ein Musical, in dem Szenenmodelle wie Trinklied und Gebet sich zur Handlung reihen. Dirigenten und Regisseure reiben sich deshalb an den in ihrer Schlichtheit hochkomplizierten Vorgaben der Partitur. Bis heute wurde die sich durch Genauigkeit und Bescheidenheit auszeichnende Einspielung unter Carlos Kleiber aus Dresden 1973 nicht übertroffen – weder von Nikolaus Harnoncourt noch durch die erste Aufnahme in historischer Aufführungspraxis unter Bruno Weil.

Szenenbild aus der Inszenierung auf der Felsenbühne Rathen
Szenenbild aus der Inszenierung auf der Felsenbühne Rathen

In Dresden, wo Weber als Kapellmeister Maßstäbe gesetzt hatte, verdrängt man gerne, dass das dortige Hoftheater nicht der Uraufführungsort war. Nah am Originalschauplatz („Böhmen kurz nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges“) ist „Der Freischütz“ eine Attraktion auf der imponierenden Felsenbühne Rathen. Weil die Aufführungen 2021 wegen Corona nicht stattfinden können und die Landesbühnen Sachsen deshalb mit einer kleinen Fassung im Carl-Maria-von-Weber-Museum und Meißen gastieren, hat der erste „echte“ Freischütz-Opernfilm von Jens Neubert (Deutschland 2010) beste Chancen auf ein Comeback. Da logieren Agathe (Juliane Banse) und Ännchen (Regula Mühlemann) im Fasanenschlösschen bei Schloss Moritzburg, und Laubwälder leuchten im herbstlichen Zwielicht.

Der Freischütz bleibt eine zeitlos aktuelle Spielvorlage

Aufs Siegerpodest unter den jüngeren Produktionen sollte unbedingt die Inszenierung am Aalto-Theater Essen, wo Tatjana Gürbaca das holzschnittartige Textbuch Friedrich Kinds zum zeitlosen Nachkriegsdrama schärfte. Im französischen „The Freischütz Projekt“ von accentus und Insula orchestra war Samiel ein Tänzer. Zwiespältig bleibt die Virtual-Reality-Konzeption des Berliner Künstlerkollektivs ­CyberRäuber mit dem Badischen Staatstheater Karlsruhe. Dort zeigte sich, wie schnell eine metaphysische Aura durch digitale Multiplizität schrumpfen kann. Um 1820 beinhalteten fantastische Sujets dagegen echte Ambivalenz und Gefährlichkeit, weil der Geisterglaube noch nicht zur Gänze überwunden war. Nicht nur durch diesen Aspekt ist Webers romantische Oper eine zeitlos aktuelle Spielvorlage über existenzielle Erschütterungen und kollektive Ängste.

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