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Opern-Kritik: Deutsches Nationaltheater Weimar – Der goldene Hahn

Die Fabel ist eine Lüge

(Weimar, 5.11.2022) Sternstunde mit Rätseln: In Rimski-Korsakows Oper „Der goldene Hahn“ verschwimmen die Kategorien von Politsatire, erotischem Mysterium und metaphysischem Märchentheater zu ganz großem Musiktheater, bei dem die Kategorien von Erfüllung und Sublimation durchlässig werden.

vonRoland H. Dippel,

Nikolai Rimski-Korsakow war um die Zeit der Komposition der letzten seiner fünfzehn Opern ernüchtert über politische Entwicklungen und die sich erschöpfende Autorität des Zarentums. Und er fürchtete schwierige Zeiten für Kultur. Das floss in seine Vertonung des Textbuchs von Wladimir I. Bjelski nach Alexander Puschkins Märchen in Versen und Washington Irvings „Sage vom arabischen Astrologen“ aus der Erzählsammlung „Die Alhambra“ irritierend und klangvoll ein. In Deutschland hat „Der goldene Hahn“, 1909 im Moskauer Theater Solodovnikov uraufgeführt, mit der bei Rimski-Korsakow wie immer rauschhaften Orchestration und berückenden Melodienfülle eine schmale, aber regelmäßige Erfolgsgeschichte. Zufälligerweise kam sie in den letzten Wochen am Opernhaus Magdeburg, am Theater Coburg und am Deutschen Nationaltheater Weimar heraus. Den inhaltlichen Rätseln des Sujets kam man in Weimar auch dieses Mal nur ansatzweise näher. Aber das macht nichts, steigert die poetische Wahrheit und entspricht der Intention des Komponisten.

Szenenbild aus „Der goldene Hahn“
Szenenbild aus „Der goldene Hahn“

Erschöpftes Politsystem

Zar Dodon ist politikverdrossen, will lieber relaxen als herrschen und an den Landesgrenzen hart durchgreifen. Da dreht ihm der nebulöse Astrologe einen Goldenen Hahn an, der ihn bei jeder Gelegenheit vor Krieg und Krisen warnt. Zar Dodon verlässt sich ab sofort auf das Spielwerk wie User heute auf ihre Apps. Beim nächsten Feldzug kommen Dodons gesamte Armee und die beiden Zarensöhne ums Leben. Der russische Landesvater selbst reagiert mit stoischer Gelassenheit und wird zum erotischen Hampelmann der wie von einem andern Stern hereinschneienden Königin von Schemacha. Am Hochzeitstag von Zar und Sultanin fordert der Astrologe diese als Frau. Zar killt Astrologe, der Goldene Hahn killt Zar. Kein Wunder also, dass die zaristische Zensur und auch viele Regisseure bis heute mit dem „Goldenen Hahn“ Schwierigkeiten hatten. Dazu kommt, dass auch ein Jacques Offenbach mit seinen spezifischen Mitteln dieses Sujet auf eine andersartige musiksatirische Spitze hätte treiben können. Die deutschen Untertitel zur russischen Originalsprache waren in Weimar eine enorme Hilfe. Am Ende jubelte das volle Haus.

Szenenbild aus „Der goldene Hahn“
Szenenbild aus „Der goldene Hahn“

Kräftiger Drahtzieher

Müde lässt Stephan Kimmig die Politfunktionäre in Reihe ohne Visionen hereintraben. Zar Dodons Söhne sind Wohlstandskinder, die über das Ausbildungsalter längst hinaus sind: Jörn Eichler (Gwidon) gibt einen sympathischen Kretin, Alim Abdukayumov (Afron) den intelligenten Intellektuellen. Mit Taejun Sun als Astrologe gelingt am DNT eine äußerst spannende Verschiebung. Denn Sun ist keiner der gespenstisch blassen Schattentenöre, die man gern für Partien von Britten und Orff nimmt, sondern ein äußerst vitaler Bühnenzeitgenosse. Ein Warner wie aus der Geisterbahn mit einem immer seltener werdenden Mut zur perfiden Drastik.

Szenenbild aus „Der goldene Hahn“
Szenenbild aus „Der goldene Hahn“

Die Königin der hochdramatischen Kikerikis

Der Chorpart dehnt sich im Schlussakt immer länger, massiver und fordernder. Der Opernchor des DNT unter Jens Petereit gestaltet das sehr eindrucksvoll. Mit nur wenigen Akzenten öffnen die Kostüme von Anja Rabes das Tor in Rimski-Korsakows fantasiemächtige Anderswelt. Alle tragen bunte Gegenwartsklamotten, nur nicht die zu einer Kollegin der Schwanen- und Naturgeistprinzessinnen anderer Rimski-Opern erhobene Sultanin von Schemacha, ihre dazu erfundenen stummen Kinder und der prunkvolle Goldene Hahn. Heike Porsteins füllig-warme Warnrufe und fast hochdramatische Kikerikis haben es in sich. Im leicht verschobenen Raum mit Stahlsäulen betoniert Katja Haß die nicht so sein sollenden Verhältnisse. Jörg Hammerschmidts Licht ist visualisierte Poesie mit Kontur, Sinn und Form. Die Videos von Mirko Borscht begnügen sich nie mit der Bebilderung von Gesagtem: Die Schlacht und die von der Sultanin versprochenen Traumorte geraten zu schemenhaften wie farbintensiven Stilisierungen, die den akustischen Farbrausch mit einem visuellen verdichten.

Szenenbild aus „Der goldene Hahn“
Szenenbild aus „Der goldene Hahn“

Prägnanz und Poesie

Stephan Kimmigs Inszenierung schärft, verdeutlicht und lässt trotzdem Freiräume für das Unsagbare und Ungesagte. Das beginnt bei der von der Zaren-Amme zur Wellness-Hostess umgepolten Amelfa. Sarah Mehnert ist ein serviceorientiertes Kompetenzbündel für Massage und Pediküre, das allerdings immer wieder von fast spastischen Mordabsichten gegen ihren Luxuskunden überwältigt wird. An ihr zeigt Kimmig die Polyvalenz von Rimski-Korsakows strahlend schöner Musik. Dann ist Tadas Girininkas ein ungewöhnlicher Zar gegen das Prachtbass-Klischee. Zar Dodon trägt feinste Anzüge und pflegt an seinem Arbeitsplatz eher höfliche als demagogische Umgangsformen. Wenn der ganze Verwaltungsrat weg ist, kommt auch bei Dodon die große Lethargie. Erst im dritten Akt geht es weiter mit der politischen Talfahrt, aber im zweiten herrscht der von Rimski-Korsakow genial und hedonistisch zelebrierte Ausnahmezustand.

Szenenbild aus „Der goldene Hahn“
Szenenbild aus „Der goldene Hahn“

Erotisches Solokonzert für Koloratursopran und Edelstatist

Eigentlich ist dieser Mittelakt ein erotisches Solokonzert für Koloratursopran, Orchester und einen singenden Edelstatisten für kurze Einwürfe. Die Sultanin kommt, sieht und siegt, weil sie ihren Invasionskrieg mit erotischen statt militärischen Waffen führt. Schemacha dekliniert poetisch und peinlich genau in der Reihenfolge der Triebmechanik Sigmund Freuds. Taktiles Interesse mutiert zum sadomasochistischen Kampfspiel. Kimmig nennt sie eine „Welten- und Galaxiereisende“. Der Zar und sie fassen sich kaum an. Yiva Stenberg singt mit einer schon virtuellen Perfektion von Laszivität und Unschuld. Ganz großes Musiktheater, bei dem die Kategorien von Erfüllung und Sublimation zerfließen. Obwohl die Regie Dodon in Trägershirt und Short lässt, herrschen in der Musik nackte Tatsachen. Die Staatskapelle Weimar trägt Mitschuld daran, dass es in dieser halben Stunde zum Äußersten an bizarrer Phantastik kommt. Andreas Wolf ist nicht nur dem Schönklang auf der Spur und gibt diesem auch textaffine Brisanz. Sensitivität und musikalische Energie sind in perfekter Synchronität. Das Schöne dabei ist, dass die Kategorien von Politsatire, erotischem Mysterium und metaphysischen Märchentheater verschwimmen und deshalb alle Dämme zwischen intellektuellem Kalkül und theatraler Magie brechen.

Deutsches Nationaltheater Weimar
Rimski-Korsakow: Der goldene Hahn

Andreas Wolf (Leitung), Stephan Kimmig (Regie), Katja Haß (Bühne), Anja Rabes (Kostüme), Bahar Meric (Choreografie), Mirko Borscht (Video), Judith Drühe (Dramaturgie), Tadas Girininkas, Jörn Eichler, Alik Abdukayumov, Andreas Koch, Sarah Mehnert, Taejun Sun, Ylva Sofia Stenberg, Heike Porstein, Chor des Deutschen Nationaltheaters Weimar, Staatskapelle Weimar

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