Opern-Kritik: Gärtnerplatztheater München – Werther

Musikalische Sensibilitäten-Orgie

(München, 16.2.2023) Massenets fieberndes Schwelgen steigern die Charlotte von Sophie Rennert, der Werther von Lucian Krasznec und das Orchester unter Anthony Bramall mit kluger Sensitivität. Nur Regisseur Herbert Föttinger hört offenbar nichts von den durch Massenet auskomponierten Ambivalenzen.

© Jean-Marc Turmes

Vor allem durch musikalische Vielschichtigkeit überzeugend: Massenets „Werther“ am Gärtnerplatztheater München

Vor allem durch musikalische Vielschichtigkeit überzeugend: Massenets „Werther“ am Gärtnerplatztheater München

„Wir Theatermenschen lieben ‚Werther‘ mehr als das Publikum.“, sagte Gärtnerplatztheater-Intendant Josef E. Köpplinger und präsentiert Jules Massenets neben „Manon“ und „Thais“ bekannteste Oper in zwei gleichwertigen Besetzungen. Zu den Folgevorstellungen gehen auch Alexandros Tsilogiannis (Werther), Anna-Katharina Tonauer (Charlotte), Ludwig Mittelhammer (Albert) und Andreja Zidaric (Sophie) ins Rennen. Es wird interessant sein, welche Akzente sie dem 1892 in deutscher Sprache an der Wiener Hofoper uraufgeführten, aber auf den französischen Text von Édouard Blau, Paul Milliet und Georges Hartmann komponierten Drame lyrique entringen.

An der Spitze im Qualitätsranking dieser Premiere mit Lucian Krasznec und Sophie Rennert als faszinierend stilsicheres Hauptpaar stand das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz unter seinem Chefdirigent Anthony Bramall. Von ihm hört man weniger die durch Dramaturgin Fedora Wesseler herbeizitierten Verismo-Ähnlichkeiten als die ihre Herkunft aus der üppig reifen Opéra comique nicht verleugnende Psychostudie.

© Jean-Marc Turmes

Szenenbild aus „Werther“ am Gärtnerplatztheater München

Szenenbild aus „Werther“ am Gärtnerplatztheater München

Orchester in optimalem Touch mit Massenet

Das in seit einigen Spielzeiten in jedem Genre immer besser werdende Orchester hat aufmerksame Vorarbeit für Massenets hier zum Glück nicht nur lieblichen, sondern auch quälenden Farben geleistet. Und es zeigt Sensitivität auf Höhe der Partitur und ihrer literarischen Quelle. Denn wie der Titelheld von Goethes größtem literarischem Erfolg „Die Leiden des jungen Werthers“ bleibt Massenets komplexer Titelpart in einem mit Offenbachs Hoffmann vergleichbaren Marathon konsequent auf der manisch-depressiven Lebensbahn – bis zum Freitod durch Brustschuss.

Massenets immer erlesene und sogar im explosiven Auftrumpfen filigrane Partitur enthält Endorphine, aber auch Kitschgefährdung für allzu mutwillige und fahrlässige Interpreten. Anthony Bramall und das Orchester tauchen ohne Vanille in Massenets instrumentale Drogen-Exzesse und geben diesen manchmal sogar sadomasochistische Bitternis. Das Orchester leistet wirklich alles Erforderliche an Kompetenz, Dezenz, passgenauer Penetranz und unverzichtbarer magischer Fluoreszenz.

© Jean-Marc Turmes

Szenenbild aus „Werther“ am Gärtnerplatztheater München

Szenenbild aus „Werther“ am Gärtnerplatztheater München

Intensives Liebespaar

Vor allem die Besetzung der beiden zentralen Partien greift dieses fiebernde wie transparente Schwelgen auf und steigert es. In ihrer ersten ganz großen Paradepartie des 19. Jahrhunderts hätte Sophie Rennert fast zu gesund klingen können. Das umgeht sie, indem sie wie ihr Tenor-Partner meist die leiseren Dynamik-Bereiche kultiviert. Es ist große Klasse, wie Bramall das ermöglicht und an wenigen Stellen desto offensiver die Extreme sucht. Spannend auch, wie Rennert vor der Pause in den Vokallinien schlicht bleibt und dann immer vielschichtiger und emotionaler wird. Die Extrempartie des Werther ist für den eigentlich im lyrischen italienischen Fach fokussierten Lucian Krasznec derzeitig noch an der Grenze des Machbaren. Man hört, dass für ihn nicht Marcelo Álvarez oder Jonas Kaufmann Vorbilder waren, sondern der bis heute unübertroffene Georges Thill vor hundert Jahren.

Die Naturbetrachtung im ersten Bild, die Sterbevision im zweiten, die Ossian-Romanze im dritten: Alles bestens! Wenn es an die ganz großen und laut sein müssenden Aufschwünge geht, siegt Krasznec mit einer zwar schlank bleibenden, aber auch minimal starren Tongebung, welche die sich im Emotionalen verbeißenden Obsessionen Werthers packend verdeutlicht. Dieses Paar zusammen macht den melancholischen wie morbiden Abend. Etwas darunter rangieren Ilia Staple als die Werther umwerbende Schwester Charlottes und der durch die Regie aufgewertete Bieder-Ehemann Albert von Daniel Gutmann. So nicht beabsichtigt, wirkt Albert in der Haltung wie in seinen beiden lyrischen Soli etwas hölzern. Ilia Staple liefert treffsicher pointierende Kraft dort, wo leichtes Koloratur-Glitzern vollauf reicht.

© Jean-Marc Turmes

Szenenbild aus „Werther“ am Gärtnerplatztheater München

Szenenbild aus „Werther“ am Gärtnerplatztheater München

Szene wenig inspiriert

Herbert Föttinger belässt es bei Andeutungen und verrutscht den Geist der Goethezeit in eine etwas nebulöse erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bilder an den Wänden künden in Walter Vogelweiders Bühnenbild vom Zeitgeist der Naturliebe und der Suche nach menschlicher Emotionalität. Statt sechs sind es neun Amtmannssprösslinge, als welche der Gärtnerplatztheater-Kinderchor nach Beobachtung eines Muttersprachlers an diesem Abend die beste französische Diktion liefert. Dank Alfred Mayerhofer trägt Charlotte auch Schlaghosen, Alberts Gefühle bleiben zu korrekt unter seinen Hüten, und Werthers hautfarbene Textilien signalisieren eine gläserne Psyche.

Föttinger überträgt Charlotte Signale der Ermutigung und eine Bereitschaft zum Gewähren, welche ihr Seelenleben auch sichtbar macht. Vor allem in den Szenen mit Sophie und Albert belässt es Föttinger dann allerdings beim zu flachen Illustrieren des Dramas. Er hinterfragt nichts und hört offenbar nichts von den durch Massenet auskomponierten Ambivalenzen. Schade, denn die Sensibilitäten-Orgie blieb so auf die musikalische Seite begrenzt. Das ist bei dieser wunderbaren wie tückischen Oper doch schon eine ganze Menge. Das Publikum feierte alle Mitwirkenden.

Staatstheater am Gärtnerplatz München
Massenet: Werther

Anthony Bramall (Leitung), Herbert Föttinger (Regie), Walter Vogelweider (Bühne), Alfred Mayerhofer (Kostüme), Fedora Wesseler (Dramaturgie), Lucian Krasznec, Sophie Rennert, Ilia Staple, Daniel Gutmann, Levente Páll, Caspar Krieger, Timos Sirlantzis, Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz

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