Die Vorurteile gegen den frühen Verdi halten sich beharrlich: Es heißt, der spätere Meister von „Aida“ und „Otello“ habe doch in jungen Jahren nichts als Hm-Ta-Ta-Musik ersonnen. Kaum geprobte, minimal inspirierte Aufführungen des entsprechenden Repertoires scheinen die Fehleinschätzung zu untermauern. Dabei gibt es bei ihm keine nebensächlichen Noten, nichts Beiläufiges oder Begleitendes, das allein den Sängern zur Entfaltung ihrer vokalen Kunstfertigkeit verhilft. In dem auf CD-Mitschnitten für die Zukunft festgehaltenen Zyklus der Frühwerke Verdis, mit dem die Opernfestspiele Heidenheim alljährlich die große Open-Air-Produktion im Festspielhaus flankieren, war nun nach „I due Foscari“ im letzten Jahr „Giovanna d’Arco“ an der streng chronologischen Reihe. Da merkt man in jeder detailgenau ausgearbeiteten Phrase der Cappella Aquileia, wie sehr es Marcus Bosch ein Anliegen ist, diesen anderen Verdi gleichsam zu rehabilitieren. Der künstlerische Direktor der Opernfestspiele, der nach Verdis reifem „Don Carlo“ nun tags darauf auch „Giovanna d’Arco“ dirigiert, macht deutlich, wie signifikant noch die kleinsten Notenwerte und feinsten Pianissimi sind – vom ersten aufregend flirrenden Crescendo des Vorspiels an, das im Festspielhaus von Heidenheim zu einer Nervenerregungsmusik mutiert, die das aus dem hochgefahrenen Graben agierende Orchester mit einer unbändigen Gestaltungslust und Feingliedrigkeit interpretiert.
Das Unerhörte hörbar machen
Wäre die Titelpartie nicht mit dem Stratosphärensopran von Sophie Gordeladze besetzt, würde die Cappella Aquileia hier vollends zur Hauptpartie werden. So macht das Festspielorchester gleichwohl unmissverständlich deutlich, dass wir das Verdi-Werk vor der Trilogia populare „Rigoletto“, „La Traviata“ und „Il Trovatore“ tunlichst einer Neubewertung unterziehen sollten. Formal folgt Verdi zwar noch brav dem Schematismus der Belcanto-Opern, in dem auf eine getragene Cavatine durch den über ein Rezitativ ausgelösten Stimmungsumschwung eine wild bewegte Cabaletta zu folgen hat. Doch zwischen den Zeilen der Partitur lernen wir bereits einen jungen Wilden kennen, der das strenge Korsett als genuin dramatisch denkender Meister durchlässig macht. Marcus Bosch verschreibt sich mit seinem Orchester einer historisch informierten Aufführungspraxis, die entschieden mit Klangklischees bricht und mit höchster Differenziertheit, sprechender Artikulation und Abstinenz des Vibrato das Unerhörte der Frühromantik hörbar macht. Darin wirkt das Ideal des künstlerisch Schönen, wie es von Donizetti, Bellini und Rossini im Belcanto geprägt wurde, entschieden in Richtung einer Kunst der theatralischen Wahrheit verwandelt.
Vom Kopftheater zur theatralischen Wahrhaftigkeit
Eine Sängerin wie Sophie Gordeladze beglaubigt diese Haltung entschieden. Die aus Tiflis stammende Sopranistin legt die Giovanna d’Arco, die Schillers Jungfrau von Orleans nachempfunden ist, als von Donizettis koloraturensprühender Lucia kommend an und stattet sie mit einem Timbre aus, das an die legendäre Edita Gruberova erinnert. Ihre famos virtuosen Tongirlanden sind indes nie mehr ästhetischer Selbstzweck des Schöngesangs, sondern werden von dieser tollen Sängerin mit theatralischer Wahrhaftigkeit aufgeladen. Regisseur Ulrich Proschka hilft ihre dabei, in der Jungfrau von Orleans das Portrait einer verrückten Träumerin zu zeichnen: Diese Giovanna ist den Fängen der Psychiatrie, als Patientin an ihr Krankenhauszimmer gebunden, in dem sie ihr erfolgreiches Eingreifen in den französisch-englischen Krieg nurmehr als Kopftheater imaginiert. Sophie Gordeladze gibt eine somnambule junge Frau, deren religiöse Schwärmerei die ganze Oper zu einer Art einzigen großen Wahnsinnsszene macht. Der stimmstarke Tschechische Philharmonische Chor Brünn darf daher in historisierend karnevalesken Kostümen als zweite Ebene der Handlung auftreten. Giovannas Liebhaber Carlo VII. (Héctor Sandoval mit sicherem Tenormetall) ist ebenso nur ein Produkt ihrer Fantasie. Nur ihr Vater Giacomo (Luca Grassi mit höhenstarkem Verdibariton) steht real an Giovannas Krankenbett, solidarisiert sich mit den Feinden seiner Tochter: Das sind hier die zu Ärzten transformierten Engländer. Die Inszenierungs-Kühnheit der Verlegung des politischen Geschehens in den Kopf der Titelfigur geht großteils verblüffend auf.
Felix Mendelssohn abgelauschte Eleganz
Wie sehr das Festspielorchester der Cappella Aquileia auch im sinfonischen Repertoire punkten kann, demonstriert Marcus Bosch am Folgetag im Galakonzert zunächst mit einer dramaturgischen Brücke von den beiden Verdi-Opern des Jahrgangs zum Streichquartett e-Moll des Komponisten aus Roncole bei Parma. In der Streichorchesterfassung von Lucas Drews setzt der Festspielchef auf eine fein dynamisierte, Felix Mendelssohn abgelauschte Eleganz, die nach der Pause auch der „Achten“ von Dvořák sehr zu gute kommt, die Bosch in luzider Leichtigkeit und vorwärtsdrängender Frische ausformt. Korngolds Violinkonzert D-Dur adelt Stephen Waarts zuvor mit seinem edelsüßen Geigenton und sublimiert die Sehrspätromantik so unprätentiös wie intonationsperfekt. Marcus Bosch motiviert sein Orchester dabei zu kammermusikalischer Intimität in großer Besetzung. Im Sommer 2024 wird er die Serie der Verdi-Opern mit „Alzira“ fortsetzen und im Rittersaal Puccinis „Madama Butterfly“ in der Regie der Italienerin Rosetta Cucchi herausbringen.
Opernfestspiele Heidenheim
Verdi: Giovanna d‘Arco
Ausführende: Marcus Bosch (Leitung), Ulrich Proschka (Regie), Lena Scheerer (Ausstattung), Hartmut Litzinger (Licht), Gerhard Herfeldt (Dramaturgie), Sophie Gordeladze, Héctor Sandoval, Luca Grassi, Martin Piskorski, Rory Dunne, Tschechischer Philharmonischer Chor Brünn, Cappella Aquileia