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Opern-Kritik: Theater Magdeburg – Grete Minde

Todesgewisse Rauschhaftigkeit

(Magdeburg, 10.2.2022) Eugen Engels Musik ist stark, dabei tief im Fin de Siècle verhaftet und voller chromatischem Berauschungsklang. Für die posthume Uraufführung seiner Oper definiert Regisseurin Olivia Fuchs das immense Spannungsfeld des Werks, die dirigierende Entdeckerin Anna Skryleva entflammt Ensemble und Orchester vollends für die enorme Neuentdeckung.

vonRoland H. Dippel,

Bei Generalproben hört man oft genauer, vor allem in einer auf musikdramatischer Überwältigungswoge surfenden Partitur wie „Grete Minde“ von Eugen Engel (1875-1943). Bei der letzten Gelegenheit für das Ensemble, die Oper nach Theodor Fontanes Novelle (1879) nochmals zu rekapitulieren, wurden die Strukturen von Musik und Text am Donnerstagabend packend transparent. Diese Uraufführung kann sich mit anderen Entdeckungen aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts durchaus messen. Den Fund des Notenmaterials durch die Nachfahren des 1943 im Vernichtungslager Sobibor umgebrachten Autodidakten Erich Engel hat Sören Ingwersen in concerti bereits dargestellt. Engel tastete sich nicht zu Kurt Weills Frechheiten und zur Zwölftönigkeit vor wie Paul von Klenau in seinem 1933 in Stuttgart uraufgeführten und von den Nazi-Spitzen geschätzten „Michael Kohlhaas“. Auch Klenaus Oper nach Heinrich von Kleist zeigt die drastische Entwicklung eines Opfers zur Selbstjustiz. Engel traut sich jedoch kaum über die erweiterte Tonalität hinaus. „Grete Minde“ hätte den braunen Machthabern sicher gefallen, wäre nicht Engels ethnische Identität als Jude gewesen. Man hört es in jedem Takt: Der Wahlberliner Engel liebte die deutsche Kultur und fühlte sich ihr zutiefst verbunden. Wegen dieses Zusammenfallens von Identifikation mit dem Schicksal des Verfolgungsopfers dauerte es bis zu dieser posthumen Uraufführung viel zu lange – fast hundert Jahre. Karen Stone präsentiert am Ende ihrer Intendanz ein die politischen Hochspannungen vor 1940 packend spiegelndes Werk. Diese Assoziationen erschließen sich in Magdeburg intensiv und tragfähig.

Szenenbild aus „Grete Minde“
Szenenbild aus „Grete Minde“

Kein Recht, aber Rache

Tangermünde 1614 bis 1617. Grete Minde flieht, weil sie vom habgierigen Halbbruder Gerdt und dessen Frau Trud geschlagen und beleidigt wird. Mit ihrem Jugendfreund schließt sie sich einer Komödiantengruppe an. Aber Valtin stirbt, Grete bleibt mit beider Säugling zurück. Als Gerdt der Zurückkehrenden ihr legitimes Elternerbteil verweigert, setzt Grete Minde die Stadt Tangermünde in Brand und kommt auf dem Kirchturm ums Leben. Das historische Vorbild Margarete von Minden hinterließ in der Rezeption ein bipolares Bild, während Fontane und Engel für die Unbeugsamkeit ihrer Grete Minde Verständnis zeigen. Engels Textdichter Hans Bodenstedt milderte das Verbrechen Gretes, die bei Fontane auch das Kind ihres Halbbruders tötet. Die szenische Umsetzung denkt Engels grausames Schicksal mit und macht Erinnerungsangebote. Trostlos gemahnen Mauern an Konzentrations- und Vernichtungslager. Olivia Fuchs erlaubt sich beim Stadt- und Kirchenbrand Pathos. Davor entwickelt sie eine faszinierende Intensität. Schwarz gekleidete Figuren und große Koffer setzen Assoziationen an die polnischen Gettos und Deportationen frei: Eine parallele historische Farbe entsteht zum Kriegs- und Bürgerkriegstreiben – äußerst wichtig und doch nichtdominierend.

Szenenbild aus „Grete Minde“
Szenenbild aus „Grete Minde“

Etwas von den verfeindeten Kollektiven und opponierenden Individuen der Großen Oper Meyerbeers steckt noch in Bodenstedts und Engels Aufbau: Aber immer bleibt Grete im dramatischen Zentrum. Filmaufnahmen von Feldern und Feldwegen sieht man in Schwarzweiß. Am Ende regnet es Feuer. Wenige andere Farbtupfer sind Grete, den Pelzmänteln ihrer Schwägerin Trud und den Komödianten vorbehalten. Engelsflügel und ein plakativer Teufelsschwanz stecken das symbolische Handlungsfeld ab. Der Hanswurst mit tiefrotem Trikot und Schellenkappe findet wie der Mensch und dessen zerrissene Seele aus diesem Jammertal nicht heraus, außer mit Alkohol. In Grete Mindes Überlebenskampf und Engels Volkschören offenbaren sich Spaltungen in dunkler Zeit. Es gibt nur Opfer, aber keine Sieger. Am Anfang sehnt sich Grete nach Menschlichkeit. „Liebe brauch’ ich! Will Liebe und kein Unrecht seh’n, will kein’s erleiden, will kein Unrecht leiden, will Recht und Liebe –“ singt sie. Und am Ende fällt ihre Entscheidung. Grete weiß, was sie tut. Deshalb darf es mit dieser ersten Inszenierung dieser Oper nicht genug sein. Die Inszenierung definiert das immense Spannungsfeld des Werks, eine realistische Deutung wollte Olivia Fuchs nicht. Recht hat sie: Es ist gut, sich als Publikum den humanen Herausforderungen ohne suggestives Beiwerk stellen zu können.

Totale Zerissenheit

Fontanes Novelle, Bodenstedts Text und Engels Musik ergeben eine geschickte Konstruktion. Schon der Frauenversteher Fontane erzählt unparteiisch von Konfessionskonflikten in Tangermünde und Arendsee. Noch sind die Glaubensmauern zwischen Katholiken und Protestanten unüberwindbar. Nur Grete gelingt das schier Unmögliche, wenn sie von der Domina (Karina Repova) den letzten Beistand für den evangelischen Valtin erwirkt. Der als Verlagsleiter regimekonformer Zeitschriften nach 1933 eine steile Karriere machende Hans Bodenstedt blieb bei Fontanes Objektivität. Der Einfluss konkreter Ereignisse der Weimarer Republik ist schwer nachvollziehbar, weil Engel neben seinem Hauptberuf als Händler von Damenkonfektionsstoffen komponierte und den Angehörigen der nächsten Generation die Entstehungsschritte nicht bekannt sind. Am Ende schreit die von Leid und Rachsucht aufgepeitschte Grete ihre mit den Bühnenflammen wetteifernde Anklage heraus.

Szenenbild aus „Grete Minde“
Szenenbild aus „Grete Minde“

Mustergültiges Musikdrama

Man kann es weder der Entdeckerin Anna Skryleva noch dem Ensemble und der Oper Magdeburg verdenken, dass die ganze Musiktheater- und Orchestersparte für dieses Projekt und die Musik eine große Zuneigung zeigt. Raffaela Lintl mit Schmelz und großen dramatischen Bögen in der Titelpartie, Zoltán Nyári als ihr Liebhaber Valtin in der kurzatmig expressiven Sterbeszene und Kristi Anna Isene als von Neid gepeinigte Schwägerin Trud haben große wirkungsvolle Partien. Wie bei Wagner artikulieren die meisten Nebenfiguren nur Wesentliches- und keine Silbe mehr. Deshalb kommen Marko Pantelić als profitgeiler Geldbürger Gerdt, Jadwiga Postrożna als offenherzige Emerentz, Paul Sketris als Gigas und Johannes Stermann als Bürgermeister Peter Guntz etwas zu knapp weg. Eine große Sympathie haben Bodenstedt, Engel und die Regie für die Komödianten: Johannes Wollrab als Prinzipal, Na’ama Shulman als emotionale Zenobia und vor allem für Benjamin Lee. Sein Hanswurst gerät zwischen Trinklust und Weisheit zur einer packend und sportivgestalteten Hauptfigur mit Hoffmannesken Zügen. Olivia Fuchs setzt das Figurenarsenal eines Sakralspiels in die Diesseitshölle. Wie in einem Filmepos des frühen Tonfilms bringt sie intelligent entwickeltes Pathos, sinnliche Neugier und Aufmerksamkeit für die Figuren ganz dicht zusammen.

Szenenbild aus „Grete Minde“
Szenenbild aus „Grete Minde“

Zuneigung, Flucht, Fluch

Engels Musik braucht – zumindest bei ihrer Neuentdeckung – diese kräftigen Szenerien. Denn sie ist stark und dabei tief im Fin de Siècle verhaftet. Nicht nur durch Wagner, dessen Einfluss man viel zu leichtfertig allem aus diesen Jahren zuschreibt, was groß, rauschhaft und chromatisch klingt. Engel baute drei wesentliche Ebenen. Einen doppelbödigen Volkston für die Gaukler, Trinklieder und Genreszenen. Dieses Pseudo-Volksnahe erscheint schon im Lied Gretes zu Beginn. Aber nie wird er so niederschmetternd diatonisch wie Mahler. Die Chorszenen, von Martin Wagner zu kraftvollen, doch nie groben Dynamikstufen hochgerissen, zeigen Engels am Berliner Opernrepertoire geschultes Können. Die Chöre aus Leoncavallos „Bajazzo“ sind ihm näher als „Die verkaufte Braut“. Exaltiert und doch nicht in Nachbarschaft zu „Elektra“ und „Salome“ artikuliert sich die freudlose Trud. In Engels Partitur steckt ein großflächig melodischer Zug, der die wenigen kantig deklamierten Momente desto wirkungsvoller macht. Wenn von Gretes verführerisch schwarzen Augen geredet wird, züngeln im Orchester sofort begehrliche Schreker-Flämmchen. Noch wichtiger als Wagner scheint der Einfluss vor Humperdincks „Königskinder“ – das Liebesbekenntnis und die Flucht Gretes und Valtins haben unüberhörbare Analogien zu Humperdincks Gänsemagd und Königssohn.

Szenenbild aus „Grete Minde“
Szenenbild aus „Grete Minde“

Das Publikum zwischen Völlegefühl und Heißhunger

Die mit zwei Stunden kurzweilige Oper schwelgt in einem generösen Eklektizismus, der Hörer zwischen Völlegefühl und Heißhunger hin- und herreißt. Für das akustisch hervorragende Opernhaus und für die satt wie ausbalanciert spielende Magdeburgische Philharmonie ist die Regionaloper aus dem nah gelegenen Tangermünde wie geschaffen. Bruno Walter bestätigte Eugen Engel zwar Talent, aber „keine Erfindung persönlicher Prägung, keine Originalität in Einfall oder Führung.“ „Es ist eine gebildete, aber keine interessante oder eigenartige Sprache“, schrieb er dem Komponisten 1937 aus Amsterdam. Möglicherweise wurde Engel mit seiner Oper zu spät fertig, bevor die Zeit für sie überreif wurde. Denn Engel blieb beim chromatischen Berauschungsklang, als sich Paul Hindemith und dem NS-Regime nahestehende Komponisten wie Egk und Orff längst von diesem entfernten. Aber GMD Anna Skryleva nimmt alle Hürden und macht Längen vergessen, weil ihr die Gestik und Rhetorik von Engels trotz ihrer Opulenz nicht gleichgültig war. Schon Fontane versetzte seine Grete Minde in ein unentrinnbares Katastrophenknäuel. Die Magdeburger Inszenierung malt dazu Engels Schicksal im Vernichtungslager als Menetekel. Das Perfide daran: Die starke „Grete Minde“, die Handlung, die Fragen zur Biographie ihrer Macher und Zeitgeschichte können nicht separat von der Musik betrachtet werden. Das bittere Erinnern an Engels Ende bleibt trotz glühender Musik.

Deutschlandfunk Kultur sendet am 19. Februar um 19.00 Uhr einen Mitschnitt der Uraufführungspremiere am 13. Februar. Bis 20. Februar stehen dazu Lieder von Eugen Engel im Stream.

Theater Magdeburg
Eugen Engel: Grete Minde

Anna Skryleva (Leitung), Olivia Fuchs (Regie), Nicola Turner (Bühne & Kostüme), Martin Wagner (Chor), Ulrike Schröder (Dramaturgie), Raffaela Lintl (Grete Minde), Kristi Anna Isene (Trud Minde), Zoltán Nyári (Valtin), Marko Pantelić (Gerdt Minde), Jadwiga Postrożna (Emerentz Zernitz), Paul Sketris (Der alte Gigas), Johannes Stermann (Peter Guntz), Johannes Wollrab (Der Puppenspieler), Benjamin Lee (Der Hanswurst), Na’ama Shulman (Zenobia), Karina Repova (Die Domina), Frank Heinrich (Ein Wirt), Opernchor des Theaters Magdeburg, Magdeburgische Philharmonie

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