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REPORTAGE STUMMFILM IM KONZERT

Aufblühendes Genre Filmkonzert

Filmkonzerte sind im Klassikbetrieb längst keine Seltenheit mehr. Doch worin liegt der Reiz der bewegten Bilder?

vonJakob Buhre,

Kurz vor der Vorstellung wirkt im Foyer der Dresdner Staatsoperette alles so wie immer: Viele Gäste sind in feiner Abendgarderobe erschienen, plaudern entspannt bei einem Glas Sekt, am Buffet gibt es belegte Brötchen und Kuchen – nur einen Popcorn-Automaten sucht man vergeblich. Betritt man jedoch den Zuschauerraum, wähnt man sich im Kino: Anstatt auf ein Bühnenbild fällt der Blick auf die weiße Leinwand, weder Dirigent noch Musiker sind zu sehen, der Orchestergraben macht sie unsichtbar. Gespielt wird an diesem Sonntag im September Die Lustige Witwe, ein Stummfilm von 1925, der auf Franz Lehárs Operette basiert, ihr aber auch eine illustre Vorgeschichte hinzudichtet. 2005 hat die Komponistin Maud Nelissen hierfür eine neue Musik komponiert, auch unter Verwendung von Motiven aus Lehárs Partitur.

Es dauert nur wenige Minuten, bis sich in der Staatsoperette die Grenze zwischen Orchester und Leinwand aufzulösen scheint und man Nelissens Musik als den tatsächlichen Soundtrack wahrnimmt. Im Bild erklingende Kirchenglocken, Marschtrommeln oder Jagdhörner ertönen aus dem Orchester, spätromantisch-melancholische Streicherklänge umspinnen sanft die Liebesszenen, die Filmfiguren tanzen zu Pariser Salonmusik.

Stummfilmabende im Stil der zwanziger Jahre nacherleben

Anders als noch vor zehn Jahren ist so eine Aufführung keine Seltenheit mehr, vielmehr sind die Filmkonzerte eine feste Säule im Klassikbetrieb geworden, eine aufblühende Gattung, bei der das Spektrum inzwischen von Metropolis bis hin zu Matrix reicht. Einst konzertant aufgeführte Filmmusiken wie Prokofjews Alexander Newski erhalten die Leinwand zurück, in Stanley Kubricks 2001 – Odyssee im Weltraum kommt der Donauwalzer nicht mehr aus der Konserve – und Spielstätten wie die Komische Oper Berlin lassen ihre Besucher Stummfilmabende im Stil der zwanziger Jahre nacherleben, inklusive Wochenschauen und Tanzeinlagen. Die Begegnung von Kino und Konzertsaal geht zurück in die achtziger Jahre. Die damalige Stummfilm-Renaissance wirkte in den Klassikbetrieb hinein, weshalb beispielsweise die Alte Oper Frankfurt 1988 der Stummfilm-Musik ein ganzes Festival widmete.

„Stummfilme haben der Filmmusik den Weg in die Konzert- und Opernhäuser bereitet“, erklärt Dirigent Frank Strobel. Zwar habe es mancherorts Berührungsängste mit den bewegten Bildern gegeben, „aber durch die Stummfilme hat man die abgebaut. Man hat es als originäres Genre anerkannt und als eine Kunstform wiederentdeckt, die in gewisser Weise zur ,Hochkultur‘ des Sinfonieorchester passte.“ Diese Anerkennung ist bis heute weiter gewachsen, nicht zuletzt dank Strobel selbst. Der gebürtige Münchner engagiert sich für das Genre wie kein Zweiter. Bereits 1992 dirigierte er in Frankfurt die Uraufführung von Alfred Schnittkes Musik zum Stummfilmklassiker Die letzten Tage von St. Petersburg, von 1997 bis 1999 war er Chefdirigent des Filmorchesters Babelsberg. Kurze Zeit später hob er die Europäische Filmphilharmonie aus der Taufe, um Produktionen eigenständig realisieren zu können.

Strobel spricht heute von einem „Boom“ der Filmkonzerte, rund 200 Projekte weltweit betreut die Filmphilharmonie im Jahr. „Die Häuser und Orchester merken jetzt, dass da ein Repertoire ist, das zu ihnen gehört.“ Und damit sind längst nicht mehr nur Klassiker à la Charlie Chaplin gemeint. Immer mehr Tonfilme kommen hinzu, Hollywood-Produktionen, aber auch seltene Fundstücke und Rekonstruktionen.

Live-Musik verleiht den Bildern noch mehr Intensität

Zuletzt hat sich Strobel Sergei M. Eisensteins Iwan der Schreckliche mit der Musik von Prokofjew angenommen, ein Mammutwerk in zwei Teilen, das die Macher vor mehrere Herausforderungen stellte: So musste für die Live-Aufführung der Originalton, der nur auf einer Spur erhalten geblieben ist, in Sprache, Musik und Geräusche zerlegt werden. Zudem bedurfte Prokofjews Partitur einer Überarbeitung – sie stimmt an vielen Stellen nicht mit der finalen Filmfassung überein.

Doch der Aufwand hat sich gelohnt: Das Berliner Konzerthaus ist ausverkauft und der Filmabend in vielerlei Hinsicht beeindruckend. Die Bühne ist durch Orchester, Solisten und große Schlagwerkgruppen bis auf den letzten Meter besetzt, Chor und noch mehr Schlagwerk sind im Rang postiert. Zwischen den Kronleuchtern hängt die mächtige Leinwand, von der eine geradezu gespenstische Atmosphäre ausgeht, wenn Eisenstein seine grimmig bis diabolisch dreinblickenden Schauspieler in Nahaufnahme zeigt. Strobel verfolgt den Film über einen Monitor am Pult, auf Hilfsmittel wie ein Metronom verzichtet er. Auch die Gesangssolisten haben einen Bildschirm neben den Noten, häufig formen sie die Silben synchron zu den Mundbewegungen der Darsteller.

Dass der Film stets unaufhaltsam weiter läuft, verlangt allen Beteiligten ein hohes Maß an Konzentration ab – eine besondere Spannung entsteht, die auch für den Zuschauer greifbar ist. Am Ende entfaltet die rasante, spektakuläre Musik von Prokofjew in Kombination mit Eisensteins Bildern doppelte Kraft.

Auch bei der Lustigen Witwe in Dresden gelingt diese Symbiose. Dirigent Christof Escher schafft es immer wieder, das Orchester synchron zum Bildrhythmus swingen zu lassen. „Wenn ich merke, dass die Musiker mitgehen, fange ich an, mich mit den Filmfiguren zu identifizieren, mit ihnen zu spielen, fast so als wenn sie lebendig wären“, so der Schweizer im Gespräch mit concerti.

Filmkonzert bietet ernste Musik, die unterhalten soll

Escher leitet vor allem in seiner Heimat regelmäßig Filmkonzerte – und liefert für seine Faszination an der Filmmusik eine durchaus interessante Begründung: „Ich dirigiere wahnsinnig gerne Oper, habe dabei aber in den letzten Jahren oft festgestellt, dass die Musik nicht mehr zu dem passt, was auf der Bühne inszeniert wird. Dagegen schätze ich bei einer Filmmusik wie der Lustigen Witwe, wie toll alles zusammenpasst, wie die Musik genau auf die Intentionen des Regisseurs zugeschnitten ist. So eine Übereinstimmung vermisse ich manchmal am Theater.“

Aber ist so eine Filmaufführung nun eigentlich E- oder U-Musik? „Weder noch“, sagt Frank Strobel und lacht. Christof Escher formuliert es so: „Es ist E-Musik, die unterhaltend sein muss. Und sie trägt dazu bei, dass die Aussage des Films verstärkt wird. Es ist eine Kunstgattung, die absolut ernst zu nehmen ist.“

Termintipps:

Pabst/Brock: Die Büchse der Pandora (1929)
Bielefeld Fr. 4.11., 20:00 Uhr Rudolf-Oetker-Halle Film
MusikFest Bielefeld. Bielefelder Philharmoniker
Bernd Wilden
(Leitung)

Hitchcock/Talbot: The Lodger (1926)
Nürnberg Fr. 20.1., 20:00 Uhr Tafelhalle
ensemble KONTRASTE
Stefan Hippe (Leitung)

Murnau/Erdmann: Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens (1922)
Mönchengladbach Sa. 4.2., 20:00 Uhr Kunstwerk
Sinfonieorchester Opus 125
Michael Mengen (Leitung)

Julian/Davis: Das Phantom der Oper (1925)
Offenbach So. 12.2., 17:00 Uhr Capitol Theater
Neue Philharmonie Frankfurt
Jens Troester (Leitung)

Ruttmann/Meisel: Berlin – Die Sinfonie einer Großstadt (1927)
Frankfurt Mi. 15.3., 20:00 Uhr Alte Oper
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin
Frank Strobel (Leitung)

Chaplin: The Kid & Idle Class (1921)
Kiel So. 2.4., 18:00 Uhr Kieler Schloss
Philharmonisches Orchester Kiel, Daniel Carlberg (Leitung)

Murnau/Heymann: Faust (1926)
Dortmund Mi. 19.04., 19:00 Uhr Konzerthaus
Dortmunder Philharmoniker
Philipp Armbruster (Leitung)

Berger/Vilallonga: Blancanieves (2012)
Berlin So. 23.4., 20:00 Uhr Konzerthaus
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin
Frank Strobel (Leitung)

Kyser/Helbig: Luther (1927)
Dresden Sa. 3.6., 20:00 Uhr Kulturpalast
MDR Sinfonieorchester
MDR Rundfunkchor
Kristjan Järvi (Leitung)

Termine

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