Bevor Aviel Cahn zur Saison 2026/27 als Intendant an die Deutsche Oper Berlin wechselt, gibt es am Grand Théâtre de Genève noch ein letztes – und nun siebtes – Mal seine konzeptionell kluge programmatische Handschrift zu bestaunen, die wie in den bisherigen sechs Spielzeiten mit einem übergreifenden Motto greifbar gemacht wird. Diesmal wird es lauten: „Lost in translation“. Die Anspielung an den Film gleichen Namens von Sofia Coppola ist dabei ebenso vielsagend wie der Bezug zu den multiplen Krisen der Gegenwart, zur politischen Instabilität einer Zwischenzeit.
Durchaus spannend ist zudem eine dem Theater durch Sanierungszwänge aufgelegte Veränderung: Von September bis Dezember 2025 wird die Saison wie gewohnt im altehrwürdigen Grand Théâtre de Genève stattfinden, ab Januar 2026 wird dann die Unter- und Obermaschinerie umfassend innerhalb eines geschätzten Kostenrahmens von rund 50 Millionen Franken erneuert. Daher werden die Premieren im kommenden Jahr im bereits früher einmal genutzten Ausweichquartier des Theaters im Bâtiment des Forces Motrices stattfinden. Auch dieser äußere Anlass schafft im Sinne des Mottos Bezugspunkte als Suche nach einem neuen Zuhause, nach Identität, nach der „Translation“, also der Übertragung von einem Ort an einen anderen, von einem Zustand des Seins zu einem womöglich noch nie dagewesen.
Sinnig sinnliche Verbindung der Sparten von Oper und Tanz
Gleich die Eröffnungspremiere der Saison am 21. September ist einem der größten Suchenden der Operngeschichte gewidmet. Richard Wagners „Tannhäuser“ wird dann von Tatjana Gürbaca szenisch gedeutet, Mark Elder dirigiert, in der kräftezehrenden tenoralen Titelpartie ist Daniel Johannson zu hören, der in Genf bereits als Parsifal beeindruckte. Die Reihe von Wagner-Werken in Cahns Intendanz schließt sich damit nach „Parsifal“ sowie „Tristan und Isolde“ zur Trilogie. Auf einen großen Erfolg hofft Aviel Cahn schon jetzt, denn er wird die Produktion später ins Repertoire der Deutschen Oper Berlin übernehmen. Debussys „Pelléas et Mélisande“ folgt am 26. Oktober in der gemeinsamen Umsetzung von Ballettdirektor Sidi Larbi Cherkaoui, seinem Kollegen Damien Jalet und der Performance-Legende Marina Abramović.
Die sinnig sinnliche Verbindung der Sparten von Oper und Tanz ist dabei keine Eintagsfliege. Auch Gershwins „An American in Paris“ kommt in der Anverwandlung des Tanzstars Christopher Wheeldon ab 13. Dezember nach Genf – mit einer letzten Vorstellung im Stammhaus am Silvesterabend. Zuvor lockt allerdings Sidi Larbi Cherkaoui noch einmal mit einer Tanz-Uraufführung ans Grand Théâtre, wenn er zum 200. Geburtstag von Johann Strauss Sohn „Bal Impérial“ vertanzt, eine Kreation, die später nach Wien wandern wird. Der Choreograph wird darin ab 19. November Orient und Okzident aufeinandertreffen lassen und die österreichische Tradition mit zeitgenössischer japanischer Musik konfrontieren.
Umzug ins Theater im Bâtiment des Forces Motrices
Der Umzug ins Theater im Bâtiment des Forces Motrices, wo deutlich weniger Sitzplätze vorhanden und begrenzte Bühnenumbauten möglich sind, macht etwas kleiner dimensionierte, aber nicht minder anspruchsvolle Produktionen möglich, in denen die raffiniert eingesetzte Videoebene vielfach klassische Bühnenopulenz ersetzen wird. Rossinis „L’Italiana in Algeri“, die ein Minenfeld der kulturellen Aneignung birgt, wird der hauptamtlich in Magdeburg tätige Westschweizer Regisseur Julien Chavaz ab 23. Januar als Komödie um Klassen und Genderfragen mit einigem Mut zur Komik inszenieren. Michele Spotti steht am Pult. Die Reihe von barocken Tanzopern wird fortgesetzt, wenn am 19. März Rameaus „Castor et Pollux“ Premiere feiert.
Der rumänische Choreograph Edward Clug, ein ausgewiesener Experte fürs Handlungsballett, wird mit der selten gespielten Fassung von 1737 sein Operndebüt geben. Für Puccinis Tragödie der „Madama Butterfly“, die mit ähnlichen Herausforderungen zu kämpfen hat wie Rossinis Komödie, hat Aviel Cahn bewusst ein weibliches Team verpflichtet: Die feinfühlige Regisseurin Barbora Horáková wird sich Puccini ab 23. April gemeinsam mit der Filmemacherin Diana Markosian widmen. Ein veritables Fest des Musiktheaters, das alle Grenzen sprengt und einen Bogen über die sieben Jahre seiner Genfer Ära spannen soll, will Cahn dann zum Ende der Saison und gleichzeitigem Ende seiner Intendanz ab 20. Juni feiern.
„200 Motels“ des Kultmusikers Frank Zappa (ja, er hat in der Tat auch Opern geschrieben!) wird dann der Amerikaner Daniel Kramer auf die Bühne bringen. Titus Engel wird dirigieren. „La Plage“, die erfolgreiche Reihe von flankierenden Angeboten, die Dramaturgin Clara Pons in der ganzen Stadt mit vielseitigen Kooperationen mit der lokalen Kunstszene kuratiert, wird erneut Querverbindungen in alle Richtungen öffnen. Gerade auch in dieser Geste der Öffnung sieht Aviel Cahn schon jetzt so eine Art Vermächtnis für seine Zeit in Genf, denn er woll(t)e sein Theater „von der Trutzburg der reichen Melomanen zu einem Haus für alle“ machen. Eine edle und wichtige Aufgabe, die dann auch in Berlin auf ihn zukommen dürfte.