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Interview Andrea Sanguineti

„Der Irrtum ist: Diese Musik ist höllisch schwer!“

Der neue Essener GMD Andrea Sanguineti möchte nicht nur aufs italienische Repertoire reduziert werden und hegt Vorlieben für die Operette und die deutsche Spätromantik.

vonChristoph Vratz,

Die laufende Saison markiert mit dem neuen Generalmusikdirektor nicht nur einen Neubeginn für das Aalto-Musiktheater Essen und die Essener Philharmoniker, sondern ist anlässlich des 125-jährigen Bestehens auch eine Rückschau. Ein glanzvoller, sicher aber auch herausfordernder Start für den Dirigenten Andrea Sanguineti.

Als Sie zum ersten Mal in Essen dirigiert haben, war die Aussicht, hier eines Tages GMD zu werden, noch weit weg.

Andrea Sanguineti: Das war eine Aufführung von „La Bohème“, es müsste 2018 gewesen sein. Natürlich war ich angespannt: Italienisches Repertoire, und ich bin Italiener – da weiß man, dass alle immer genau hinschauen. Außerdem ist bei einer ersten Begegnung zwischen Dirigent und Orchester oft viel Skepsis mit im Spiel. Aber ich bin ausgesprochen herzlich empfangen worden. Vom ersten Moment an hat es, wie man so sagt, gefunkt.

Ihr Eindruck vom Klang des Orchesters?

Sanguineti: Zunächst zur Akustik: Der Klang im Aalto-Theater ist, auch unten im Orchester­graben, phänomenal. Es ist ein eher weicher, fast seidiger Klang, nie brutal, selbst wenn das Orchester sehr laut spielt. So ist auch der Klang des ­Orchesters. Unter Stefan Soltész waren die Essener Philharmoniker „Orchester des Jahres“, und diese Qualitäten spüren Sie bis heute. Das Orchester ist sehr flexibel, sehr reaktiv, es unterschreitet nie seine Möglichkeiten, egal wer vorne steht und egal was passiert.

Wie verlief der Prozess zur Wahl als GMD?

Sanguineti: Es gibt Theater, die offizielle Ausschreibungen bevorzugen, und es gibt Theater, die erst intern nach Kandidaten Ausschau halten. Beide Wege haben Vor- und Nachteile. Wichtig ist, jemanden zu finden, der bestmöglich zu einem Haus passt. In Essen erfolgt im ­Anschluss an alle Engagements von Gastdirigenten eine gründliche Auswertung: Was war gut, was weniger? Auch das Orchester gibt dabei seine Expertise ab. Hein Mulders, damaliger Intendant in Essen, hat bei der Suche nach einem neuen GMD die Mitarbeiter zu einem Gespräch gebeten, um abzuklopfen, wer für diese Stelle in Frage käme. So kam ich auf eine Liste mit mehreren Namen.

Zwischenzeitlich hatte ich zwei Ballett-Produktionen und als Einspringer „Carmen“ dirigiert, dann kam Corona, und damit rückte Purcells „Dido“ aufs Programm. Das war für mich eine echte Herausforderung, da ich kein Barockspezia­list bin. Ich habe einen ganzen Sommer gebraucht, um mich darauf vorzubereiten. Ein zusätzliches Einspringer-Engagement mit „Don Carlo“ kam hinzu, und dann hat das Aalto-Theater seine Entscheidung getroffen.

Sie hegen, neben der italienischen Oper, eine Vorliebe für die Operette.

Sanguineti: Ja, sie begeistert mich sehr. Ich hatte zuvor schon einige Operetten-Produktionen dirigiert, und vermutlich hat das Aalto-Theater so jemanden gesucht.

Obwohl wir in einer Zeit leben, in der „Comedy“ in Mode ist, hat es die Operette als Genre des augenzwinkernden Humors oft schwer.

Sanguineti: Es gibt einige Regisseurinnen und Regisseure, die ihr Handwerk gut beherrschen und ihren Stoff im Griff haben, auch und gerade bei der Operette. Das ist sehr wichtig. Leider spielt die Operette an den Thea­tern oft nur eine untergeordnete Rolle, ist eine Art Feigenblatt auf dem Spielplan. Nach der Premiere wird die musikalische Leitung oft an Kapellmeister abgegeben oder an jüngere Gastdirigenten, weil man glaubt: Ach, das ist ja nur Operette, da kann man halt experimentieren. Der Irrtum ist: Diese Musik ist höllisch schwer! Man muss extrem genau und gleichzeitig sehr flexibel sein. In den Partituren finden sich selten konkrete Hinweise, außer wenn „Polka“ oder sonstige rhythmische Vorgaben gemacht werden. Aber alle Feinheiten, etwa bei den Übergängen, sind ungemein schwer – für Orchester und Sänger.

Für sein Dirigier-Studium fuhr Andrea Sanguineti jede Woche von Italien nach Wien
Für sein Dirigier-Studium fuhr Andrea Sanguineti jede Woche von Italien nach Wien

Italien ist weniger als Land der Operette bekannt …

Sanguineti: In vielen Produktionen dort wird nach italienischen Übersetzungen gesungen. Es wird viel Lehár gespielt, auch Strauss. Es gibt einige Städte, in denen die Operette wirklich gepflegt wird, in Triest beispielsweise, in anderen aber nicht. Oft reisen Compagnien von Theater zu Theater. Die Darsteller sind häufig Schauspieler, keine Sänger – das ist ein völlig anderer Ansatz als in Deutschland. Die Operette ist eben eine Mischgattung und vielleicht auch deswegen so schwer.

Wenn man an einem neuen Haus beginnt, hat man sicher viele Wünsche. Welche sind es bei Ihnen?

Sanguineti: Ich habe bereits im Vorfeld gesagt, dass ich nicht aufs italienische Repertoire festgelegt werden möchte. Das Erbe des Essener Orchesters ist vor allem die Spätromantik – Wagner und Strauss. Daran möchte ich anknüpfen. Ich liebe zum Beispiel Erich Wolfgang Korngold. Auch Alexander von Zemlinsky wäre zu nennen. Merle Fahrholz, unsere neue Intendantin, möchte außerdem einen Schwerpunkt auf Werke von Komponistinnen legen, wie demnächst beim „Faust“ von Louise Bertin. Das unterstütze ich sehr. Es wird dahingehend sicher künftig noch die eine oder andere Überraschung ­geben.

Wie würden Sie Ihren eigenen Probenstil beschreiben?

Sanguineti: Locker, aber bestimmt.

Konkret?

Sanguineti: Ich versuche immer, eine möglichst angenehme Probensituation zu schaffen, dass das Orchester amüsiert und konzentriert arbeiten kann – von meiner Seite möglichst mit einem Augenzwinkern, aber auch hartnäckig, wenn die Ziele noch nicht erreicht sind. Man muss immer sehen, wie weit das Orchester an jedem Tag mitzugehen bereit ist. Wenn es am Abend zuvor „Parsifal“ gespielt hat und morgens um zehn die nächste Probe angesetzt ist, finden Sie andere Voraussetzungen vor, als wenn am Tag zuvor spielfrei war. Mein Ziel ist, dass das Orchester am liebsten nach einer Probe freiwillig noch eine halbe Stunde länger spielen würde.

Wer hat Sie als junger Mensch beeindruckt?

Sanguineti: Ich habe immer sehr viel beobachtet, in allem, was gut war und schlecht. Am meisten lernt man, wenn etwas schlecht läuft. Wir sind eine Generation, die nicht von Beginn an mit dem Internet groß geworden ist. Aber dann mit Anfang zwanzig! Es ist eine riesige digitale Bibliothek, ein Schatz, bei dem man sich sehr viel abschauen kann. Bevor ich eine Oper neu einstudiere, höre ich mir alles an, was auf dem Markt ist, auch historische Aufnahmen. So ergibt sich für mich ein guter Überblick über die Aufführungsgeschichte, und daraus leite ich dann meine eigenen Überzeugungen ab.

Haben Sie die deutsche Sprache während Ihrer Wiener Studienzeit so gut gelernt?

Sanguineti: Nie systematisch, sondern immer so nebenbei: Ich versuche mit Menschen in Kontakt zu treten, und das in ihrer jeweiligen Sprache. Zugegeben: Auch das Fernsehen kann beim Lernen einer Sprache hilfreich sein … Nach Wien bin ich gegangen, weil ich in Italien damals noch nicht Dirigieren studieren durfte.

Warum?

Sanguineti: Man braucht ein siebenjähriges Kompositions-Studium, Kontrapunkt und anderes. Ich war mit zwanzig noch nicht so weit. Also bin ich nach Wien gegangen, jede Woche für zwei Tage – und anschließend mit dem Nachtzug wieder zurück nach Italien, um dort Komposition zu studieren. Wien war die strengste Musikhochschule, die ich kennengelernt habe. Pro Woche musste man eine neue Oper am Klavier lernen. Ich hatte Glück, weil ich relativ gut vom Blatt lesen kann. Aber es war sehr lehrreich, zumal man nicht überall so offen empfangen wird wie in Essen.

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Classic Vienna

Werke von Mozart, Gluck, Haydn Lena Belkina (Mezzosopran) ORF Vienna Radio Symphony Orchestra Andrea Sanguineti (Leitung) Sony Classical

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