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Blind gehört Lisa Batiashvili

„Das muss ein Mann sein!“

Die Geigerin Lisa Batiashvili hört und kommentiert CDs von Kollegen, ohne dass sie erfährt, wer spielt

vonTeresa Pieschacón Raphael,

München: im Wohnzimmer der Familie Batiashvili-Leleux. Eine Echo-Klassik-Trophäe steht auf dem Flügel. Zwei davon hat Lisa Batiashvili bereits gewonnen. Bald kommt noch eine neue Statue dazu. „Diesmal bekommt mein Mann (François Leleux) den Echo-Klassik“, freut sie sich. Sie sind eben ein Paar, das in die gleiche Richtung blickt, auf gleicher Höhe, im Leben wie in der Kunst. Doch jetzt geht es um sie. Sie soll CDs von Kollegen kommentieren, ohne dass sie weiß, wer spielt.

Bach: Partita Nr. 2 d-Moll BWV 1004, 5. Satz
Yehudi Menuhin (Violine)
Naxos 2001

 



Die Aufnahme dürfte aus den fünfziger Jahren stammen … Diese Art, Bach ganz gerade zu spielen. Aber das ist doch nicht Ivry Gitlis? Menuhin soll das sein? Er hatte ja gewisse Probleme in der rechten Hand als Jugendlicher, doch die linke Hand hatte immer viel Ausdruck. Aber das merke ich hier nicht so. Vielleicht liegt es auch an der Aufnahme, die von 1934 ist, wie Sie sagen. Warum er so als Genie gefeiert wurde, fragen Sie? Er hatte eine außerordentliche Persönlichkeit, ein sehr unterschiedliches Repertoire, auch im Jazz. Er fing als hochbegabtes Kind an und behielt seine Seele im harten Musikbusiness. Meine Lehrerin Ana Chumachenco hatte bei ihm studiert und erzählte viel von ihm. Es ging eine starke Energie von ihm aus. Man hat großen Respekt vor Bachs Chaconne, sie muss in einem Atemzug gespielt werden. Das ist nicht leicht. Ich kann mich an die Einspielung der damals 17-jährigen Hilary Hahn erinnern, die alles ein bisschen im amerikanischen Stil gespielt hat – sehr präzise, aber auch intuitiv die richtige Stimmung und Bedeutung erfassend.

Beethoven: Violinkonzert D-Dur op. 61, 3. Satz
Hilary Hahn (Violine), Baltimore Symphony Orchestra, David Zinman (Leitung)
Sony Classical 1998

 


Oh, ich hätte mich besser vorbereiten sollen! Ein amerikanischer Künstler? Es klingt nach Hilary Hahn, doch von der Aufnahmequalität meint man, hier spiele ein etwas älterer Künstler. Doch, es ist Hilary? Mich beeindruckt ihre Präzision, ihre Intelligenz. Ich spiele allerdings das Konzert anders, ich würde mehr Leichtigkeit hineinbringen und das Tänzerische im dritten Satz mehr betonen. Für Hilary war es ja nicht einfach. Sie wurde sehr früh als Wunderkind berühmt und musste sich mit Anfang Zwanzig gegen sehr viele Geigerinnen behaupten, die dann aufkamen. Auch die seelische Entwicklung spielt eine Rolle ...

Mendelssohn: Violinkonzert e-Moll, 1. Satz
David Garrett (Violine), Deutsches Symphonieorchester Berlin, Andrew Litton (Leitung)
Decca 2009



Das kann nur ein Mann sein, der da spielt! (lacht) Das merke ich am starken Vibrato, an der nervös geführten Linie, der akzentuierten rechten Hand. Das würde ein Mädchen nicht machen. Das ist David Garrett. Eine neue Aufnahme? Er spielt das Ganze so perkussiv, so draufgängerisch, man kann seine Pop-Karriere vorausahnen. Sie fragen, wie lange meiner Meinung nach seine Karriere andauern wird? So wie er das macht, könnte das gut gehen. Denn er macht ja beides, Klassik und Pop. Ich hätte am Anfang nicht geglaubt, dass seine Karriere so andauern würde. Doch die Stadien sind voll, er hat verstanden, was die Menschen wollen. Ich selbst würde es nicht so machen. Weil ich ein Werk von Bach oder Mozart nicht so präsentieren möchte und könnte.

Waxman: Carmen-Fantasie
Jascha Heifetz (Violine), RCA Victor Symphony Orchestra, Donald Vorhees (Leitung)
RCA 1988



Das ist Waxmann. Und Heifetz! Nur er konnte das so spielen. Seine extrem starke Persönlichkeit hat eine ganze Generation ‚zerstört‘, die alle dachten: wenn man so schnell und mit einem solchen Vibrato spielt wie er, wird man berühmt. Man hat ihn so oft kopiert. Es gibt so viele schlechte Klone von Heifetz.

Chatschaturian: Violinkonzert d-Moll, 1. Satz
Ida Haendel (Violine), RSO Stuttgart, Hans Müller-Kra (Leitung)
hänssler CLASSIC 2011

  


Ida Haendel?! Ich fand es unglaublich, als ich sie mit achtzig Jahren noch hier in München auf der Bühne erlebte. Sie war ja eine der wenigen Geigerinnen der sechziger Jahre. Heute haben Frauen mehr Rechte, deshalb gibt es auch mehr Geigerinnen und Pianistinnen. Clara Schumann war die große Ausnahme.

Paganini: Caprice Nr. 1 E-Dur
Itzhak Perlman (Violine)
Warner Classics 2015

  



Frank Peter Zimmermann? Nein? Die Aufnahme hat eine sehr gute Qualität, die kann nicht so alt sein. Perlman, sagen Sie? Ein großer Geiger, der trotz seiner Kinderlähmung eine großartige Karriere gemacht hat. Wenn die Psyche stabil ist, dann kann man vieles überwinden. Man merkt ihm auch an, dass er ein ausgebildeter Bariton ist. Mit dem Singen ist man als Instrumentalist intuitiv auf der richtigen Spur, viele Lehrer singen dem Schüler vor. Wenn man die Melodie im Kopf hat, dann hat man auch die Atmung und das Legato im Kopf. Haben Sie in Ihrer Auswahl auch deutsche Geiger?

Mozart: Streichquartett Es-Dur KV 428, 1. Satz
Schneiderhan Quartett
Deutsche Grammophon/Universal 2006




Ein deutsches Quartett – das Busch-Quartett? Nein? Ich bin als Solistin ausgebildet worden. Damals hieß es: „Wenn deine Technik nicht reicht, dann kannst Du ja immer noch Kammermusik machen.“ Heute weiß ich: Als Solistin ist es gar nicht einfach, in diese Rolle zu schlüpfen. Man reagiert anders auf ein Orchester als auf Menschen, die ganz nah bei einem sind. Als Solist ist es klar, wann man führen muss, wann man geführt wird. In der Kammermusik muss man viel flexibler auf den anderen eingehen. Man entwickelt seine Persönlichkeit. Doch wer ist das bloß? Ah! Wolfgang Schneiderhan! Ich habe Aufnahmen von ihm. Er soll auf der Liste der über tausend ‚gottbegnadeten‘ Künstler gestanden haben, die Hitler und Goebbels 1944 zusammenstellte? Alles Deutsche, nehme ich an, und keine Juden. Und keiner, der das System kritisierte. Wenn dies jemand im sowjetischen System tat, hatte der auch keine Chance mehr. Man spricht nur nicht genug davon. Die Deutschen haben ihre Vergangenheit aufgearbeitet, in den Schulen, Universitäten und Medien. Aber in der Sowjetunion fehlt bis heute dieses Bewusstsein. Deutschland ist genau das Gegenteil von dem geworden, was es in den Vierzigern war, aber in Russland geht es auf eine „modernere“ Weise weiter.

Brahms: Violinkonzert D-Dur op. 77, 2. Satz
Gidon Kremer (Violine), Wiener Philharmoniker, Leonard Bernstein (Leitung)
Deutsche Grammophon 1983

  


… darf ich schnell an den Oboen vorbeispulen? … Ich mag nur wenige Oboisten, außer meinem Mann natürlich (lacht). Das ist in keinem Fall nicht russische Schule. Gidon Kremer, sagen Sie? Seltsam. An Gidon mag ich, dass er immer auf der Suche ist, dass er Tiefgang hat. Doch mir fehlt hier die Gelassenheit, es klingt alles sehr gewollt. Die Balance zwischen Intellekt und Intuition ist nicht einfach. Ich selbst habe intuitiv angefangen, mit den Jahren erfuhr ich immer mehr und fing an zu analysieren. Doch das bremste mich. Jetzt scheine ich eine Balance zu finden. Wenn nur der Kopf spielt, hat die Interpretation keine Ausstrahlung.

Sibelius: Violinkonzert d-Moll, 1. Satz
Nigel Kennedy (Violine), City of Birmingham Symphony Orchestra, Simon Rattle (Leitung)
EMI Classics 1988

  


Das kann auch nur ein Mann sein. Sehr präsent, sehr markant, sehr voluminös. Mögen Sie diesen Geiger? Sie auch nicht? Das Schimmernde, Subtile, die Naturstimmung fehlt. Dieser Geiger war wohl nicht so oft in Finnland. Dafür in Polen, sagen Sie? Dann ist es wohl Nigel Kennedy. Von dem kenne ich nur die „Vier Jahreszeiten“ … Sibelius war ein hervorragender Geiger. Wenn der Komponist das Instrument kennt, für das er schreibt, dann kennt er auch die Grenzen. Umgekehrt habe ich erlebt, dass Komponisten, die nicht viel von Geige wissen, oft technisch sehr schwer schreiben. Meist klingt das dann nicht gut, auch wenn man die technischen Schwierigkeiten überwindet.

Haydn: Violinkonzert D-Dur, 2. Satz
Gottfried von der Goltz (Violine), Freiburger Barockorchester
Harmonia Mundi 2009

  


Ach, so schön! Das spiele ich auch. Historische Aufführungspraxis ist für mich kein Tabu. Die Musik muss allerdings natürlich, phantasievoll und wahrhaftig klingen. Dann ist es auch egal, welche Geige, welchen Bogen man nimmt. Ich bewundere Christian Tetzlaff sehr, der übrigens auf einer modernen einfachen Geige jedes Repertoire spielt. Jeder Geiger sucht einen bestimmten Klang und auch ich habe lange gesucht. Auch als ich eine Stradivari hatte, war ich nicht sehr glücklich. Jetzt mit meiner Guarneri bin ich es. Da trägt der Klang auch in schlechten Sälen. Ein solcher Klang kann einen süchtig machen. Eine Stradivari macht allerdings aus einem schlechten Geiger keinen guten.

Gershwin: Clap yo‘ hands. In: „Stéphane Grappelli joue Cole Porter et George Gershwin“
Stéphane Grappelli (Violine)
Accord 1984



Grappelli! Super Jazz Geiger! Ein Naturtalent. Unverwechselbar. Ich hatte die CD, in der er mit Menuhin musiziert. Im Moment, wo man als klassischer Geiger anfängt Jazz zu spielen, ändert sich viel in der Bogenführung, in der Atmung, und dann ist es ganz schwer, fast unmöglich, Mozart oder Tschaikowsky zu spielen.

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