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Kurz gefragt: Lisa Batiashvili

„Kunst ist systemrelevant“

Lisa Batiashvili gehört zu den herausragendsten Musikerinnen unserer Zeit. Die 41-Jährige stammt aus Georgien und wuchs in Deutschland auf. Hier spricht die Geigerin über …

vonChristian Schmidt,

… den Shutdown

Lisa Batiashvili: Das kam für die ganze Gesellschaft sehr unerwartet. Man kann daraus auch Positives ziehen: Die Auszeit gibt Gelegenheit, nicht immer nur von Probentermin zu Konzert hin- und herzuhetzen, sondern über die Dinge nachzudenken. Aber für den Kulturbetrieb insgesamt ist es natürlich ein riesiger Einschnitt. Ich habe Vertrauen in die Gesellschaft, dass sie nach der herausfordernden Bewältigung des Alltags spätestens jetzt ihre Aufmerksamkeit auch der Kultur schenken wird. Kunst ist systemrelevant.

… alternative Perspektiven

Batiashvili: Bereits im April habe ich im Presswerk eines Autoherstellers ein großes Onlinekonzert gegeben, mit dessen technischer Umsetzung ich sehr glücklich war. Nichts ist schlimmer, als bei diesen alternativen Formaten Abstriche an der Qualität zu machen. 250.000 Menschen waren via Livestream dabei, anderthalb Millionen haben sich das Konzert noch nachträglich angeschaut. Mein nächstes Onlinekonzert, diesmal mit dem Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks, steht auch schon fest. Aber seien wir ehrlich: All das kann und soll niemals das Live-Erlebnis und den direkten Austausch mit dem Publikum ersetzen.

… Finanzierung in Krisenzeiten

Batiashvili: Am Anfang standen noch Solidaritätsaufrufe und -konzerte. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr müssen wir über existenzielle Fragen nachdenken. Das betrifft ja nicht nur unsere eigenen Familien, sondern auch die Infrastruktur um uns herum – Agenten, PR-Manager, Assistenten und so weiter. Wenn wir Künstler nichts verdienen können, wird diese Arbeit ebenfalls nicht bezahlt. Spätestens nach drei Monaten wird das zum Problem. Es gibt bereits einige Online-Plattformen wie „takt1“, die Nutzungsgebühren erheben. Musik kann auf Dauer nicht kostenlos sein. Die Leute müssen sich bewusst sein, welche Arbeit dahintersteckt. Für die Politik gilt das genauso, gerade im Land der Dichter und Denker: In guten Zeiten ist sie sehr stolz auf Kunst und Kultur, in schlechten schien sie bisher kaum einen Gedanken daran zu verschwenden. Wenn die Kultur leidet, ist auch unser Menschenleben nicht mehr gleich viel wert.

… politische Verantwortung

Batiashvili: Natürlich ist es schwierig, die komplexen Mechanismen der Politik zu überblicken. Das darf aber für uns Musiker keine Ausrede sein, sich nicht aktiv am Diskurs zu beteiligen. Politiker sollten nicht die einzigen sein, die über die Zukunft des Landes entscheiden. Wir leben in einer Demokratie und sind dazu aufgerufen, uns einzubringen. Ich selbst komme aus einem Land, das diese Tradition im Gegensatz zu Europa – zu dem ich schon immer aufgeschaut habe – nicht gerade pfleglich behandelt.

… Heimat

Batiashvili: Erinnerungen an die Heimat sind sehr wichtig für die Entwicklung der Persönlichkeit. Ich bin in der georgischen Teilrepublik der Sowjetunion geboren und ab dem Alter von elf Jahren in Deutschland aufgewachsen. An Georgien erinnere ich mich als ein Land der Wärme, des großen familiären Zusammenhalts. Die Natur ist von beeindruckender Schönheit. Die Ferien in den wunderbar riechenden Fichtenwäldern der Berge sind heute noch ein Teil von mir. Solche Kindheitserinnerungen beeinflussen für immer die Empfindsamkeit eines jeden Künstlers. Durch meinen Mann habe ich außerdem eine starke Beziehung zu Frankreich. Meine Kinder, halb georgisch, halb französisch, wurden in München geboren. Für sie ist die Frage nach der Heimat noch einmal eine ganz andere.

… Wettbewerbe

Batiashvili: Die Vorbereitung, also der Weg zum Wettbewerb, scheint mir als Ziel fast wichtiger als das Ergebnis. Einerseits ist die Konkurrenzsituation natürlich unangenehm, andererseits aber auch eine wichtige Erfahrung. Probespiele vor Jurys, Orchestern oder Dirigenten bedeuten immer, dass man sehr hart arbeiten muss, um sich aufs Neue zu beweisen. Ich teile nicht die pauschale Kritik an Wettbewerben, die vermeintlich fragwürdige Tugenden protegieren. Jeder Wettbewerb ist anders, und man kann sich aussuchen, wohin man fährt. Wer als Künstlerpersönlichkeit etwas zu sagen hat, wird sich auf lange Sicht durchsetzen.

… das „Time“-Attribut der „vollkommenen Musikerin“

Batiashvili: Ich bin gerührt von einem solchen Lob, weiß aber gar nicht, was das sein soll. Vollkommenheit existiert nicht.

… Verantwortung für zeitgenössische Musik

Batiashvili: Diese Verantwortung empfinde ich stark. Die weitere Entwicklung von Musik kann nur durch die Zusammenarbeit von Musikern mit Komponisten vorangetrieben werden. Gleichzeitig kann ich natürlich nur diejenigen Werke überzeugend spielen, die sich mir öffnen, mit denen ich mich identifizieren kann.

… Ihre Guarneri del Gesù

Batiashvili: Nach zwei Stradivari-Geigen hätte ich nie gedacht, dass ich mich in eine Guarneri so verlieben könnte. Ich genieße es, darauf zu üben, weil sie so viel zurückgibt. Sie wurde zu einem wichtigen Teil meiner Familie, meiner Seele, meiner Stimme.

… Jazzklänge auf Ihrem neuen Album

Batiashvili: „City Lights“ ist eine Reise durch die verschiedenen Welten der Musik. Wir konnten ganz verschiedene Richtungen einschlagen: mit Katie Melua in Richtung Pop, mit Till Brönner in Richtung Jazz und in eine wieder ganz neue Richtung mit Miloš Karadaglić. Die Musik hat viel zu tun mit den Reisen, Erlebnissen und Erinnerungen der Künstler an früher. Gerade Filmmusik kann diese speziellen Emotionen der Nostalgie besonders gut wecken. Das Album ist für mich ein Herzensprojekt, an dem ich zwei Jahre lang sehr intensiv gearbeitet habe, und ich freue mich sehr, es bald mit der Welt teilen zu können.

Album Cover für City Lights

City Lights

Werke von Chaplin, Dvořák, Bach, Piazzolla u. a. Lisa Batiashvili, Katie Melua, Till Brönner, Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin u. a. Deutsche Grammophon

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