Ein Treffen im Arbeitszimmer von Christoph Huntgeburth in der Berliner Universität der Künste. Hier ist der Erste Flötist der Akademie für Alte Musik Berlin (AKAMUS) seit 1984 Professor. Sein Kollege, der Geiger Bernhard Forck, einer der Konzertmeister der AKAMUS, gibt Kurse an der Musikhochschule Hanns Eisler Berlin und ist Musikalischer Leiter des Händelfestspielorchesters Halle.
Graun: Concerto grosso G-Dur, 1. Satz
Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach, Hartmut Haenchen
Berlin Classics 1993
Bernhard Forck: Wahrscheinlich Hartmut Haenchen und das Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach.
Christoph Huntgeburth: Das ist Graun, Quadrupel-Konzert. Moderne Instrumente, historisch informiert. Sie spielen es mit Viola, aber eigentlich ist es mit Gambe.
Forck: Ein weicheres, runderes Klangbild als mit historischen Instrumenten, dadurch eher gediegen. Sie waren damals mehr auf einen schönen Ton bedacht. Aber mit klarer rhythmischer Diktion und dem Anspruch, der Musik historisch gerecht zu werden. Sie haben sich ja wirklich sehr verdient gemacht um Berliner Komponisten. Und natürlich waren exzellente Instrumentalisten am Werk.
Purcell: Dido and Aeneas, Ouvertüre
MusicAeterna, Teodor Currentzis
Alpha 2008
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Forck: Purcell, was für eine fantastische Musik!
Huntgeburth: Hier ist das Cembalo bei der Überleitung ausgerutscht. Ja klar, es klang wie ein kleiner Unfall.
Forck: Ja. Aber mit Esprit.
Huntgeburth: Ist es ein italienisches Ensemble?
Forck: Nein, Currentzis wahrscheinlich, MusicAeterna. Dieses sehr Perkussive, dieses Abrupte, das gibt dem Ganzen eine enorme Kraft.
Huntgeburth: Toller Drive … Forck: Was am Anfang an Intensität da ist, geht am Schluss der Einleitung ein bisschen verloren. Aber im Allegro-Teil ist es wieder da. Exzellent.
Monteverdi: Marienvesper
amarcord, Lautten Compagney, Wolfgang Katschner (Leitung)
Carus 2014
Huntgeburth: Monteverdi. Sehr gutes Diminuendo in den Zinken.
Forck: Auch gute Posaunen, sehr schön gespielt.
Huntgeburth: Sehr sauber, auch die Streicher, sehr differenziert …
Forck: … klar und doch sehr gesanglich. Gefällt mir sehr gut.
Huntgeburth: Bisschen zu viel Vibrato, …
Forck: … weshalb ich überlegt habe, ob ich es bin. Diese Sonata ist sehr schwer zu spielen. Sehr schön!
Huntgeburth: Ich finde, es ist auch ein passender Raumklang dafür. Klingt nach einer Kirche, oder?
Bach: Violinkonzert E-Dur BWV 1042
Bath Festival Orchestra, Sir Yehudi Menuhin (Violine und Leitung)
EMI 1960
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Huntgeburth: Da würde ich sagen: Sechzigerjahre. Recht gute Intonation für diese Zeit. Aber im Tempo würde man das heute trotzdem ganz anders auffassen. Das ist ein sehr langsames Tempo, das „swingt“ für mich nicht und tanzt nicht. Und das ganze Klangbild ist ziemlich undurchsichtig im Vergleich zu einem historischen Instrumentarium, das viel mehr artikulieren würde und sich spritziger anhören würde.
Forck: Ja, es gibt überhaupt keine Wertigkeiten innerhalb der Phrase. Jede Note hat hier im Grunde den gleichen Zeitwert wie die vorherige. Es sind hier am Anfang bloß drei Töne und eben nicht eine Phrase. Diese Musik würde man heute im Konzertsaal so nicht mehr hören.
Bach: Musikalisches Opfer, Sonata sopr’il Soggeto Reale
Musica Antiqua Köln, Reinhard Goebel (Leitung)
DG 1979
Huntgeburth: Diese Komposition ist schon etwas exaltiert interpretiert, würde ich mal sagen …
Forck: … Auch diese Überpunktierung ist merkwürdig. Überhaupt die ganze Art, wie die Vorschläge und auch die Triller gespielt werden. Es ist alles einfach zu sehr auf die Musik aufgesetzt. Das stört ein wenig.
Huntgeburth: Ich finde diese Interpretation auch ein bisschen zu gewollt.
Forck: Sehr gut artikuliert, aber irgendwie zu viel des Guten.
Huntgeburth: Auch dieses Demonstrieren von Seufzerfiguren, ich finde, das müsste mehr integriert sein.
Forck: Das ist barocke Interpretation zum Mitschreiben. Jemand zeigt einem, wie es sein muss. Ich vermute, es ist Reinhard Goebel. Es ist bestimmt seine frühe Einspielung des „Musikalischen Opfers”. Sehr lange her. Er würde diese Überpunktierungen heute wahrscheinlich nicht mehr machen. Damals musste man die Dinge wohl auch ein bisschen deutlicher überinterpretieren, weil man sich vor allem gegen diese Soße wehren musste, die um einen herum stattfand.
Mozart: Così fan tutte, Ouvertüre
Concerto Köln, René Jacobs
harmonia mundi 1999
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Forck: Gute Rhetorik, sehr guter rhythmischer Impuls in den Tutti.
Huntgeburth: Sehr gut gespielt. Nur der Beginn des Oboensolos hat mir nicht so richtig gut gefallen. Schade, dass es auf dem ersten Ton so vibriert, wodurch sich das nicht so entwickelt und irgendwie stehen bleibt. Die Tutti sind ganz toll, und auch später die Oboen- und Flötensoli sind wunderbar integriert.
Forck: Das hat ohne Zweifel rhythmische Kraft. Aber ich habe keine Ahnung, wer es sein könnte. René Jacobs? Bei dieser Härte des Einsatzes hätte ich das nicht erwartet. Ich glaube, es war eine gute Kombination damals mit Concerto Köln und René. Weil er als Sänger und hervorragender Rhetoriker von der kantablen Seite kommt und bei Concerto dieses Perkussive eine große Rolle spielt – manchmal noch mehr als bei uns.
Bach: Matthäus-Passion
Rheinische Kantorei, Das Kleine Konzert, Hermann Max
Capriccio 1996
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Huntgeburth: Schönes Tempo, Ausgewogenheit in den Stimmen.
Forck: Ein wenig zu schnell, aber das ist marginal.
Huntgeburth: Sehr schönes Klangbild. Gut ausgewogen zwischen Chor und Orchester. Die obligaten Stimmen sind sehr gut zu hören. Und es ist sehr tänzerisch angelegt, was ich aber nicht schlecht finde.
Forck: Ich finde es allerdings für das „… helft mir klagen“ vielleicht eine kleine Spur zur leicht, …
Huntgeburth: … zu sportlich, …
Forck: … aber sehr gut gespielt, gut aufgenommen.
C. P. E. Bach: Flötenkonzert WQ 166
Emmanuel Pahud (Flöte), Kammerakademie Potsdam
Warner Classics 2016
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Huntgeburth: Carl Philipp Emanuel Bach …
Forck: … Flötenkonzert. Moderne Instrumente, historisch informiert gespielt, sehr gut gespielt.
Huntgeburth: Für moderne Instrumente hervorragend interpretiert.
Forck: Das könnte die Kammerakademie Potsdam sein, was meinst Du?
Huntgeburth: Hm, vielleicht mit Pahud?
Forck: Ja, Emmanuel Pahud, oder? Potsdam!
Huntgeburth: Das ist sehr geschmackvoll gespielt. Ich finde es interessant, dass die dynamische Flexibilität bei der Flöte viel größer ist als bei den Streichern. Also das rhetorische Begreifen von Figuren macht er hervorragend. Die Streicher sind zwar in Hinsicht auf das Akzentuieren und Artikulieren sehr gut, aber das dynamische Loslassen von den unbetonten Figuren funktioniert nicht so gut.
Forck: So wie man beim Sprechen ein Komma oder eine Atempause braucht, ist das auch in der barocken musikalischen Rhetorik wichtig.
Mozart: Requiem
Concentus Musicus Wien, Nikolaus Harnoncourt (Leitung)
deutsche harmonia mundi 2003
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Huntgeburth: Das hat Mozart leider ohne Flöten komponiert, betrüblich. Aber mit Bassetthörnern. Und die sind hier besonders toll.
Forck: Ein wunderbarer, großer Bogen, auch ein sehr schönes Tempo.
Huntgeburth: Eine Aufnahme, die die Musik in den Vordergrund stellt. So muss es sein, finde ich. Da erscheint mir nichts gewollt.
Forck: Die Aufnahme ist nicht perfekt. Das meine ich positiv. In den Tempi ist sie beweglich, es ist Freiraum da, …
Huntgeburth: … es atmet, man merkt, dass es eine Live-Aufnahme ist. Das gefällt mir.
Haydn: Sinfonie Nr. 42 D-Dur
Il Giardino Armonico, Giovanni Antonini (Leitung)
Alpha Classics 2016
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Forck: Sehr guter Zugriff!
Huntgeburth: Ja, sie wissen genau, was sie tun. Auch die Hörner, mit ein bisschen Geräusch verbunden, was ich gerne mag. Nicht zu glatt gebügelt, toll, auch die Streicher.
Forck: Sie nehmen sich auch Zeit zwischendurch, und dann kommt die Attacke zurück.
Huntgeburth: Kantabilität und auch Angriff, sehr gutes Tempo, …
Forck: … mit Temperament!
Huntgeburth: Dynamisch auch gut abgestuft.
Forck: Absolut fantastische Intonation!