Startseite » Interviews » „Storytelling ist die Essenz meines Tuns“

Interview Pekka Kuusisto

„Storytelling ist die Essenz meines Tuns“

Für Pekka Kuusisto, in dieser Spielzeit Artist in Residence des hr-Sinfonieorchesters, ist Musik grenzenlos. Jetzt bricht er in neue Sphären auf.

vonHelge Birkelbach,

Sein Vater Ilkka war Seemann. Doch dann landete der irgendwann in New York, zunächst mit dem Ziel, Kirchenmusik zu studieren. Ilkka Kuusisto lernte die Clubs kennen, in denen Cool Jazz gespielt wurde. Der Seemann und Kirchenmusiker liebte den Jazz und begann zu komponieren, vornehmlich Opern. Die verschiedenen Einflüsse brachte er zurück in seine Heimat, in seine Familie. Es ist hilfreich, diese Vorgeschichte zu kennen, wenn man mit seinem ebenso umtriebigen Sohn spricht. Pekka Kuusisto ist Geiger, Dirigent, Künstlerischer Leiter und Komponist. Und auch genremäßig gibt er sich offen und segelt gerne gegen den Wind.

Helfen Sie uns: Wie spricht man Ihren Namen korrekt aus?

Pekka Kuusisto: Denken Sie an die ungarische Sprache und setzen Sie die Betonung auf die erste Silbe. Das „Ku“ wird betont. Und in meinem Vornamen schiebt man zwischen der ersten und zweiten Silbe eine kleine Pause ein, also „Pe-kka“. Tatsächlich existiert eine ferne Verwandtschaft zwischen Finnisch und Ungarisch. Das ist eine lustige Sache im Finnischen und gar nicht so unwichtig für Sänger, wenn sie zum Beispiel Stücke von Sibelius interpretieren. Es ist wichtig, die spezifischen Betonungen der Wörter zu kennen, sonst gerät der Rhythmus der Komposition aus dem Gleichgewicht. Die Sprache hat also direkte Auswirkungen auf die Musik, nicht nur die vokale.

Ob Folk, Jazz oder elektronische Musik: Sie sind bekannt für Ihr breites Spektrum, das sich auch in Kooperationen niederschlägt.

Kuusisto: Je mehr ich mich mit ganz unterschiedlichen Genres beschäftige, desto tiefer kann ich wiederum in die klassische Musik eintauchen. Es ist fast wie eine Obsession. Es scheint in unserer Familie zu liegen. Mein Großvater war Organist und ein großer Fan von Max Reger. Mein Vater wollte die Leidenschaft für Kirchenmusik fortführen, stolperte aber in New York eher aus Zufall in einen Jazzclub – und es war um ihn geschehen. Cool Jazz löste gerade den Bebop ab. Als Komponist hat er so ziemlich alles gemacht, was in der Musik damals möglich war. Es gibt übrigens ein faszinierendes Video von 1970, als Bill Evans mit seinem Trio auf Tour in Finnland war. Als er in Helsinki in einer TV-Sendung auftreten sollte, bestand Evans darauf, dass er nur auf einem Flügel von Bösendorfer spielen würde. Der Sender hatte jedoch keinen Bösendorfer – aber mein Vater hatte einen. Er hörte von der Sache, weil er im Kontakt mit dem Sender stand. So kam es, dass ein kleines Konzert im Wohnzimmer meiner Eltern stattfand, mit Bill Evans am heimischen Flügel. Ich erhalte regelmäßig E-Mails von Jazz-Fans, die fragen: „Ist das dein Vater im Video?“ Sie können es nicht glauben.

Sie schätzen sehr die hohe Kunst der Improvisation, die man aus dem Jazz kennt. Lässt sie sich in ein klassisches Konzert übertragen?

Kuusisto: Ich glaube, es gibt viele Aspekte, die äußerst nützlich für uns als klassisch ausgebildete Musiker sind. Zunächst: Nicht alles so haargenau zu spielen, wie es geplant war. Auch wenn viele meiner Kollegen es nicht wissen, machen sie genau das. In diesem Kontext bedeutet Improvisation nicht, Noten zu spielen, die nicht in der Partitur stehen, sondern die Phrasierung zu ändern. Das tun wir ja immer, je nachdem wo und mit welchem Orchester wir auftreten. Jeder improvisiert jeden Tag, das gehört zum Leben. Bei Bach spürst du in jeder Note, dass er ein begnadeter Improvisator war. Und er war wahnsinnig schnell in seinem Arbeitspensum, er brauchte die Improvisation, um das alles zu schaffen. Heute haben sehr viele zeitgenössische Komponisten verstanden, dieses freie Fließen in ihre Musik zu integrieren.

Auch Kadenzen bieten die Möglichkeit freier Ausgestaltung.

Kuusisto: Genau. Es gibt ein wundervolles Violinkonzert von Daníel Bjarnason, das zwei massive improvisierte Kadenzen enthält. Ich habe es schon einige Male gespielt, unter anderem mit dem New York Philharmonic und dem Iceland ­Symphony Orchestra. Vergangenen Oktober habe ich Magnus Lindbergs erstes Violinkonzert aufgeführt, er dirigierte selbst. Vor dem Konzert sagte er mir, dass ich nicht unbedingt seine Kadenz spielen müsse, sondern mir gerne etwas überlegen könne. Ich improvisierte also meine eigene Kadenz, und nach dem Auftritt meinte er zu mir: „Das war gut. Genau so!“ Beim Konzert in der Elbphilharmonie habe ich die Kadenz wieder aufgegriffen und spontan verändert. Es war der Abend, nachdem tags zuvor George Floyd von einem Polizisten ermordet wurde und die Proteste begannen. Ich habe das Thema eines amerikanischen Spirituals genommen, „Nobody Knows the Trouble I’ve Seen“. Das ging mir den ganzen Tag durch den Kopf. Ich musste es einfach spielen.

Pekka Kuusisto
Pekka Kuusisto

Auf der aktuellen CD mit dem Aurora Orchestra spielen Sie ein Werk von Thomas Adès. Welche konzeptionelle Idee steckt dahinter?

Kuusisto: Die CD widmet sich dem Thema Kosmos und Sphären und enthält unter anderem Mozarts „Jupiter“-Sinfonie. Ich bin sozusagen Gast und spiele das Violinkonzert von Thomas Adès, das er „Concentric Paths“ genannt hat. Es ist eine sehr emotionale Musik. Das Violinkonzert hat Ähnlichkeiten mit Werken von György Ligeti. Jeder, der ein gut funktionierendes Ohrenpaar hat, versteht, was in dieser Musik passiert. Sie zieht dich an, wie in einer konzentrischen Bewegung. Je intensiver du dein Ohr trainierst, desto mehr verstehst du. Adès weiß immer genau, was er gerade vorhat und auf welche Weise er es realisieren kann. Seine Kompositionen sind nie einfach zu spielen, sehr kompliziert. „Concentric Paths“ beschreibt die Bahnen der Planeten, ihre harmonischen Bezüge untereinander und wie sie gleichsam einen Chor bilden. Als wir es live aufgeführt haben, gab es visuelle Unterstützung durch Projektionen im Raum, ziemlich eindrucksvoll.

War auch ein Schwarzes Loch zu sehen?

Kuusisto: Das weiß ich nicht so genau, ich musste ja spielen (lacht). Aber das würde auf jeden Fall passen. Bewegung, Gravitation und Anziehung sind Bestandteile der konzeptionellen Idee. Interessanterweise habe ich kürzlich, als wegen Corona keine Auftritte möglich waren, „Eine kurze Geschichte der Zeit“ von Stephen Hawking gelesen. Schwarze Löcher spielen eine wesentliche Rolle in seinem Buch. Wenn sie schon Licht komplett aufsaugen können, will ich nicht wissen, wie es einem menschlichen Wesen ergeht, wenn es sich dem Ereignis­horizont nähert … Aber als Künstler interessieren mich solche Naturphänomene natürlich, sie sind wie Benzin für die Vorstellungskraft!

Mögen Sie Science-Fiction-Filme?

Kuusisto: Ja, wenn Sie intelligent gemacht sind. „2001: Odyssee im Weltraum“ von Stanley Kubrick gehört als Klassiker gewiss dazu. Aber auch Filme neueren Datums wie „Interstellar“ von Christopher Nolan. Er setzt zwar mehr auf Unterhaltung und entwickelt eine viel größere Rasanz als „2001“, der mehr einer Meditation gleicht. Gleichwohl gibt es offensichtliche Parallelen; Nolan hat sozusagen Kubrick die Hand geschüttelt. Übrigens auch beim Soundtrack, den Hans Zimmer geschrieben hat. Zimmer nutzt klangliche Spannungsmomente, die wir von Richard Strauss kennen. Die Aufnahmen für den Soundtrack entstanden übrigens am selben Ort, wo auch „Also sprach Zarathustra“ für den Kubrick-Film eingespielt wurde, in der Londoner Temple Church mit ihrer großen Orgel. Das ist bestimmt kein Zufall.

Wie würden Sie jemandem, der Sie gar nicht kennt, Ihren „Job“ beschreiben?

Kuusisto: Ich würde sagen: Imagination ist mein Job. Grundsätzlich besteht meine Arbeit darin, Geschichten zu erzählen. Story­telling ist die Essenz meines Tuns. Manchmal erzähle ich meine eigenen Geschichten, manchmal die von anderen. Ich bin wie ein Schauspieler ohne Worte, aber mit einem Instrument. Die andere Seite meines Jobs ist eher administrativer Natur: das Gestalten von Programmen und die Suche nach Komponisten, von denen man bisher noch wenig gehört hat.

Gibt es eine Frage, die sich ein Künstler niemals stellen sollte?

Kuusisto: Ha, grundsätzliche Fragen sind immer gut! (lacht) Ja, ganz einfach: Sind meine Haare schön?

Album Cover für Aho: Prelude, Toccata and Postlude u. a.

Aho: Prelude, Toccata and Postlude u. a.

Samuli Peltonen (Cello), Sonja Fräki (Klavier), Jaakko & Pekka Kuusisto (Violine) BIS

Termine

Auch interessant

Rezensionen

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!