Interview Víkingur Ólafsson

„Genies kann man nicht treffen“

Der Pianist Víkingur Ólafsson spricht über Mozarts Nuancen, die menschliche Seite genialer Komponisten und warum er auf den Begriff „Klassik“ am liebsten verzichten würde.

© Ari Magg

Víkingur Ólafsson

Víkingur Ólafsson

Wenn Víkingur Ólafsson Musik erklärt, ist er manchmal kaum zu bremsen. Als der isländische Pianist bei einer Berliner Album-Präsentation im September voller Elan über seine neue Mozart-Einspielung spricht, stellt er nach zehn Minuten mit Blick zum Moderator fest: „Ach, Sie sind ja auch noch da“ – und erntet einen großen Lacher im Saal. Seit seinem Deutsche Grammophon-Debüt 2017 mit Musik von Philip Glass hat Ólafsson viele Sympathien auf seiner Seite – was nicht zuletzt an der großen Sorgfalt liegt, mit der er seine CDs kuratiert.

Víkingur Ólafsson, ich habe hier eine Klassik-CD mit dem Titel „Baby needs more Mozart“, haben Sie die schon mal gesehen?

Víkingur Ólafsson: Nein, die kenne ich nicht. Ist die für Eltern gedacht, die aus ihrem Kind einen kleinen Einstein machen wollen? – Also, ich selbst bräuchte die ganz sicher nicht, denn ich kann ja selbst für meine Kinder Mozart spielen.

Aber können Sie mit der Idee dahinter etwas anfangen?

Ólafsson: Es ist natürlich ein schöner Gedanke, dass Mozart einen positiven Effekt auf Neugeborene hat. Tatsächlich kommt mein zweijähriger Sohn manchmal zu mir und möchte den „Daddy-Song“ hören. Damit meint er dann das Rondo in F-Dur, das ich zuletzt häufiger zu Hause gespielt und auch für meine neue CD aufgenommen habe. Das Stück ist unschuldig, geradezu engelhaft. Ja, ich denke schon, dass Mozart sehr gut für Kinder ist. Aber er wird noch besser, je älter man wird.

Inwiefern?

Ólafsson: Je mehr man sich mit ihm beschäftigt, desto mehr realisiert man, wodurch Mozart zu Mozart wird: der Umfang an Details und Nuancen, wie er das gleiche Vokabular wie seine Zeitgenossen nutzt und doch mehr herausholt, der Tradition noch eine neue Wendung hinzufügt. Diese Nuancen – auch die dunkle, besessene Seite von Mozart – habe ich immer mehr schätzen gelernt und versuche sie heute mit meiner Interpretation auszufüllen.

Sie fühlen sich heute also in einem guten Alter für Mozart …

Ólafsson: Auf meinem Album beschäftige ich mich ja mit dem erwachsenen Mozart der 1780er Jahre. Ich bin jetzt 37, sprich: zwei Jahre älter als Mozart geworden ist. Das ist schon ein komisches Gefühl. Auf jeden Fall fühle ich mich bereit, diese Musik jetzt anzupacken.

Mich hat etwas überrascht, wie langsam Sie Mozarts Fantasie in d-Moll beginnen. Welche Idee steckt dahinter?

Ólafsson: Die Idee, dass dieses Stück wie improvisiert klingt. Denn ich glaube wirklich, dass es sich bei der Fantasie um eine aufgeschriebene Improvisation handelt. Ich kann mir gut vorstellen, wie Mozart am Klavier sitzt, den ersten d-Moll-Akkord spielt, dann zum nächsten verminderten Akkord übergeht, zum nächsten Dominant-Akkord… Ich spiele es so, als würde die Musik gerade erst im Kopf entstehen. Mozart hat diese Fantasie auch nicht selbst vollendet.

Sie spielen das Fragment sogar ohne Schlussakkord.

Ólafsson: Richtig, aber damit es funktioniert, habe ich im Anschluss eine D-Dur-Komposition, das Rondo KV 485 ausgewählt, welches für mich an dieser Stelle die unvollendete Fantasie komplettiert.

Sie legen bei Ihren Alben viel Wert auf Dramaturgie und klangliche Zusammenhänge, weniger auf Vollständigkeit von Werk-Zyklen. Ist so eine freie Herangehensweise typisch für eine neue Generation von Interpreten?

Ólafsson: Ich denke, das ist weniger eine Frage von Generationen als von Persönlichkeiten. Glenn Gould zum Beispiel war sicher jemand, der offen gewesen wäre für diesen Ansatz anstatt ein Album nach Katalognummern zu gestalten. Das gab es ja im späten 20. Jahrhundert sehr oft, dass Pianisten Gesamteinspielungen gemacht haben, man hat also nicht eine Bach-Invention allein aufgenommen, sondern immer gleich alle fünfzehn Inventionen und Sinfonien. Oder eben alle Chopin-Nocturnes. Alle Beethoven-Sonaten.

Diesem Ansatz stehen Sie kritisch gegenüber?

Ólafsson: Zumindest sehe ich darin eine gewisse Gefahr: Nämlich, dass man dem einzelnen Werk weniger Aufmerksamkeit schenkt, dass man überhört, was jedes einzelne Stück einzigartig und zu einem Stück Poesie macht. Auf meinem Bach-Album habe ich deswegen ganz bewusst Stücke aus ihrer Sammlungs-Umgebung herausgenommen und sie in Kontext zu anderen Stücken gestellt. Und dann kommt hinzu, dass ich nur Musik aufnehme, an die ich wirklich glaube.

Das heißt?

Ólafsson: Es muss Musik sein, die zu mir spricht, die ich lieb gewonnen habe. Und das ist nicht bei allen Mozart-Sonaten oder allen Beethoven-Sonaten der Fall, ich finde, ihre Qualität schwankt. Sie wurden alle von Genies komponiert, nur glaube ich nicht, dass wir sie alle gleich gut bewerten müssen. Wenn ein Stück nicht zu mir spricht, mich nicht fasziniert, ist es besser, wenn es jemand anderes aufführt, der mehr als ich daran glaubt. Ich würde generell sagen, dass man die junge Generation ermutigen sollte, Werke immer auch kritisch zu betrachten. Ich arbeite heute mit John Adams und Thomas Adès zusammen, die würden niemals behaupten, dass all ihre Werke gleich gut sind. Aber weil es Mozart ist, sollen wir alle Sonaten spielen? Was würden Sie machen, wenn ich Ihnen jetzt sage, dass ich die letzten zwei Mozart-Sonaten in F- und D-Dur nicht besonders mag?

© Ari Magg

Víkingur Ólafsson

Víkingur Ólafsson

Dann drucken wir das.

Ólafsson: Ja, bitte. Mir gefällt von der Sonate KV 533 nur der 3. Satz, das Rondo, das spiele ich auch. Den ersten Satz dagegen finde ich schrecklich akademisch und trocken, wie eine Übung in zweistimmigem Kontrapunkt und weit entfernt von der Inspiriertheit anderer mozartscher Werke. Macht mich so eine Aussage jetzt arrogant? – Ich finde nicht, denn auch für mich ist Mozart ja der wahrscheinlich großartigste Komponist der Musikgeschichte. Aber genauso war er eben auch Mensch.

Sie erwähnten Ihre Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Komponisten. Haben Sie bereits Genies getroffen?

Ólafsson: Ich glaube, Genies kann man nicht treffen. Denn in dem Moment, wo du ihnen begegnest, merkst du, dass sie keine Genies sind. Die Idee des Geniebegriffs ist ja, dass jemand perfekt und göttlich ist. Triffst du aber Komponisten wie Adès oder Adams, merkst du, dass sie genauso menschlich, genauso suchend, sich genauso der eigenen Unvollkommenheit bewusst sind wie alle anderen. Angenommen ich wäre Bach begegnet: Ich glaube nicht, dass ich danach gedacht hätte, ein Genie vor mir gehabt zu haben.

Für Ihr Album „Reflections“ haben Sie unter anderem mit der Neoklassik-Komponistin Hania Rani zusammengearbeitet. Musikkritiker und Akademiker blicken auf dieses Genre noch immer skeptisch, der Kompositions-Professor Gordon Kampe beispielsweise sagte in concerti , hier werde „Tiefgründigkeit nur vorgetäuscht“.

Ólafsson: Hm. Da würde mich interessieren, ob er das vielleicht auf alle Komponisten bezieht, die anders arbeiten, als er es unterrichtet. Was ist mit Jazz-Musikern, Pop-Künstlern?

Kampe meint, die Bezeichnung „Neo-Klassik“ impliziere eine Verbindung zur Tradition von Bach, Mozart und Beethoven, die aber so nicht gegeben sei.

Ólafsson: Das wiederum verstehe ich. Und ganz ehrlich: Wenn es nach mir ginge, könnten wir grundsätzlich auf den Begriff „Klassik“ verzichten. Denn er impliziert immer, dass etwas aus der Vergangenheit kommt. Dabei ist das, was ich mache, sehr wohl Teil der Gegenwart. Egal ob ich Adams oder Mozart spiele, es fließt alles, was ich heute erlebe, in meine Herangehensweise und Interpretation. Außerdem ist dann noch die Frage: Ab wann ist Musik Klassik? Sind die Beatles und Abba schon Klassik? Wir blicken jetzt auf sieben Jahrzehnte Pop-Geschichte zurück, da könnte man auch „Ziggy Stardust“ von David Bowie als „klassisch“ bezeichnen. Man kann mit „Klassik“ die Ära zwischen 1740 und 1810 definieren, aber ansonsten hat der Begriff für mich keine Bedeutung mehr. Und was die Kritik an „Neo-Klassik“ anbelangt: Ich glaube, dabei spielt auch ein bisschen Neid eine Rolle. Für mich gibt es gute Neo-Klassik und schlechte Neo-Klassik, das ist wie in jedem anderen Genre auch. Und Hania Rani macht wunderbare Musik!

Lassen Sie uns zum Schluss noch über ein Foto von Ihnen sprechen, das ich im Internet entdeckt habe: Es zeigt Sie im Wald an einem alten Klavier sitzend, mit brennenden Noten und Korpus. Was hat es damit auf sich?

Ólafsson: Das Foto entstand für ein Musik-Festival, welches ich in Schweden geleitet habe. Im Jahr 2016 war unser Thema „verbotene Musik“, es wurden also Werke aufgeführt, die von totalitären Regimen verboten wurden, oder auch Stücke, deren Aufführung die Komponisten selbst untersagt hatten wie etwa die des „Karneval der Tiere“ von Saint-Saëns. Ich weiß nicht, ob ich so ein Foto heute nochmal machen würde, vermutlich eher nicht. Ich werde nicht nochmal ein Instrument anzünden. Wobei ich Ihre Leser beruhigen kann: Das Klavier, das dort brannte, war schon vorher tot.

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