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Opern-Kritik: Salzburger Festspiele – Der Idiot

Pathologie und Spiritualität

(Salzburg, 2.8.2024) Bei den Salzburger Festspielen inszeniert Krzysztof Warlikowski „Der Idiot“ von Mieczysław Weinberg. Mit beherzten Eingriffen in die Handlung erntet dieser bei der Premiere viel Beifall.

vonRoland H. Dippel,

Nach der Uraufführung in einer Kurzfassung an der Moskauer Kammeroper 1991 folgte die vollständige Aufführung von „Der Idiot“ erst 2013 in Mannheim. In der Felsenreitschule ereignete sich bei den Salzburger Sommerfestspielen ein beklemmendes Premierenwunder mit Beifallsstürmen und minimalen Buhs für die Regie. Gewiss erkannte man Produktionsmechanismen des Warlikowski-Teams aus früheren Inszenierungen, welche sich auch in dieser Arbeit mit synergetischer Affinität über das Werk wölben. Weinbergs letzte Oper setzt in jede ihrer Figuren einen Funken Gottes, sogar den satirischen und sarkastischen. Mit seinem Roman „Der Idiot“ wollte Fjodor Dostojewski 1867 als gezielt kalkulierten Verkaufsschlager einen Teil seines Spielschuldenbergs abtragen.

Die Oper des in der Sowjetunion lebenden Weinberg, der als einziger seiner Familie den Holocaust überlebte, nach dem Roman über einen Epileptiker in Konfrontation mit einer korrumpierten Gesellschaft, ist ein ganz starkes Stück. Durch Sergej Prokofjews „Der Spieler“, die nächste Salzburger Opernpremiere, und Tschaikowskys bei den Tiroler Festspielen Erl geschärften „Mazeppa“ und „Chowantschina“ in der Berliner Staatsoper Unter den Linden reiht sich an deutschen und österreichischen Opernhäusern diesen Sommer eine anspruchsvolle Auseinandersetzung mit Opern aus Russland.

Szenenbild zu „Der Idiot“
Szenenbild zu „Der Idiot“

Regie-Markenzeichen

Eindeutige Erkennungssignale einer Warlikowski-Inszenierung sind die vor den Zugfenstern auf der Bühne marodierenden Plattenbauten und das D-Mark-Kürzel im Börsenticker. Oft ist etwas Labilität bewirkende Bewegung in Małgorzata Szczęśniaks Bühnenbild. Ihre Kostümkreationen charakterisieren mit zeichenhafter Sinnfälligkeit jede Figur, vom Pelzmantel der sich „gefallene Frau“ nennenden Nastassja bis zum Faltenrock der sich emanzipierenden Aglaja. Nur Fürst Myschkin, der mit einer ekstatischen Aura vollkommener Freude begabte Idiot, trägt angeschmutztes Weiß unterm aschblondem Haar.

Die Oper endet damit, wie sich Myschkin mit seinem Freund und Rivalen Rogoschin zur von letzterem umgebrachten Nastassja legt. Dostojewskis Definition von Epilepsie ist äußerst subtil und schließt auch in der Diagnostik des 19. Jahrhunderts andere Diagnosen von Geistes- und Seelenkrankheiten ein. Myschkins Anspruch, die Wesenhaftigkeit der Menschen erkennen zu wollen, trägt durch seine Spaltung in Kindlichkeit, hohe Bildung und Religiosität äußerst ambivalente Züge.

Bis zum von einer vergrößernden Videoprojektion intensivierten Schluss ereignet sich das Geschehen in einer klaren, aber nicht sonderlich scharfen Personenregie. Durch die Wiener Philharmoniker erklingt Weinbergs Musik mit höchstmöglicher Dichte und Sinnlichkeit. Mirga Gražinytė-Tyla ist emotional – ohne Exaltation – und gibt der dreistündigen Partitur damit hohe Innenspannung. Es bleibt vom ersten bis zum letzten Takt faszinierend, wie Weinberg die seit Ende des 19. Jahrhunderts ausgehöhlten Kolorit- und Szenenmodelle reaktiviert. So erreicht die ergreifend schlichte Ballade vom „Armen Ritter“ einen Gipfel intensiver Wahrhaftigkeit.

Szenenbild zu „Der Idiot“
Szenenbild zu „Der Idiot“

Gottesnähe und Menschenflucht

Warlikowski hält es nicht für ausgeschlossen, dass eine Inszenierung den Plot eines Quellentextes bis zur Unkenntlichkeit verändern kann. Das geschieht hier nicht radikal, aber bezeichnend. Wer ist Warlikowskis Myschkin? Bei seiner Rückkehr aus dem Schweizer Sanatorium will er „mit Schönheit die Welt retten“ und sehnt sich zum Horizont, wo sich Himmel und Erde berühren. Auf der leider etwas unsensibel zugebauten Bühne des Edel-Aufführungsortes Felsenreitschule liegt Myschkin nach seinem ersten Anfall da wie „Der tote Christus im Grab“ auf Hans Holbeins Gemälde. Darüber stehen Gravitätsformeln von Newton und Einstein auf einer Tafel. Kein Zweifel: Dieser Myschkin ist ein zutiefst idealistischer Metaphysiker und zugleich ein scharf denkender Rationalist.

Als Rogoschin Nastassja getötet hat, weiß Myschkin, dass nur bei einem treffsicheren Herzstich kein Blut aus der Wunde tritt. Er zieht zuerst die Liebe Nastassjas, die er wegen ihrer Schönheit und des Mitleids mit ihrem Außenseitertum erwidert, auf sich. Die danach durch Myschkin zutiefst erschütterte und von diesem in ihrer Panik vor anstehenden Lebensveränderungen alleingelassene Aglaja fragt Myschkin nach ihrem Herzen. Vor Aglajas daraufhin offenherzig artikulierter Leidenschaft weicht er aber aus. Er wehrt Aglaja mit salbadernder Weichheit ab und reagiert sofort mit drastischen Angstzuständen. Myschkin hält also nicht im Geringsten dem stand, was er auslöst. Er flieht diejenigen, denen er wie eine Lichtgestalt entgegentritt und die von ihm etwas erwarten.

Szenenbild zu „Der Idiot“
Szenenbild zu „Der Idiot“

Das kommt in der Inszenierung und Musik faszinierend heraus, legt eine parallele Sinnebene über den „Idioten“ als Figurensynthese aus Messias und einem naiven Don-Quijote-Double. Ausrine Stundyte gibt eine Nastassja, deren Callgirl-Permissivität innerhalb weniger Sekunden wie ein bröselnder Schutzpanzer zerstäubt. Den Szenen mit den Herren der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor setzt Warlikowski etwas schäbig werdende Eleganz zu. Xenia Puskarz Thomas verkörpert mit zunehmend dramatisch geführter Stimme Aglajas Panik und ihre Verzweiflung am Idioten Myschkin. Vierter im ambivalenten Liebesquartett ist Vladislav Sulimsky als Rogoschin. Er gibt einen im Lauf seiner Leidenschaft immer sensibleren Kerl und immer feinere Facetten.

Mehr seine drei erotischen Mitspielenden als der Asket und esoterische Drahtzieher Myschkin reizen Segen und Fluch der Ehe in Gedanken und Lebensplanspielen aus. So wird Weinbergs Oper zum Musiktheater-Roman unter Führung des Tenors Bogdan Volkov in der Titelpartie und eine Extremherausforderung für das Publikum. Liegt es an Volkov oder an Weinbergs Intensität? Volkov klingt tatsächlich wie ein Messias, dessen Empathie-Ausstrahlung in verführerisch trügende Nähe lockt. Dabei schaut er mit leuchtenden Mitleidsaugen und fassungslos darauf, was er mit seinem guten Wollen bei gleichzeitiger Distanzsucht anrichtet.

Szenenbild zu „Der Idiot“
Szenenbild zu „Der Idiot“

Tolles Ensemble

Am Ende richtet sich die Kamera auf die tote Nastassja, einen fast friedlich dreinblickenden Mörder Rogoschin und einen Myschkin, nach dem der nächste Anfall greift. Sogar zwischen Rogoschin und Myschkin kommt es zu einer fast homoerotisch anmutenden Intimität neben einer Toten im Doppelbett. Das vieldeutige Spiel wird durch ein ganzes Ensemble-Arsenal hoch motivierter Sängerinnen und Sänger erweitert. Allen voran Iurii Samoilov als tänzerischer Kommentator Lebedjew. Pavol Breslik spielt Ganja, einen der um Nasstassja herumschwadronierenden Möchtegern-Bräutigame. Bis in die kleinen Partien ist diese Produktion treffend besetzt. Apokalyptik durch Realismus.

Salzburger Festspiele
Weinberg: Der Idiot

Mirga Gražinytė-Tyla (Leitung), Krzysztof Warlikowski (Regie), Małgorzata Szczęśniak (Bühne und Kostüme), Pawel Markowicz (Chor), Felice Ross (Licht), Kamil Polak (Video), Claude Bardouil (Choreografie), Christian Longchamp (Dramaturgie), Bogdan Volkov, Ausrine Stundyte, Vladislav Sulimsky, Iurii Samoilov, Clive Bayley, Margarita Nekrasova, Xenia Puskarz Thomas, Jessica Niles, Pavol Breslik, Daria Strulia, Jerzy Butryn, Alexander Kravets, Herren der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, Wiener Philharmoniker

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