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Interview Thomas Hengelbrock

„Er war eine singuläre und extreme Gestalt“

Thomas Hengelbrock über Konzertmarathons, Beethoven als ersten freischaffenden Komponisten und über seine Bewunderung für den Wiener Klassiker.

vonTeresa Pieschacón Raphael,

Auch für Thomas Hengelbrock steht das kommende Jahr ganz im Zeichen Beethovens. Dafür wird der Spezialist für historische Aufführungspraxis ein legendäres Konzert wiederaufleben lassen.

Zum Beethoven-Jubiläum rekonstruieren Sie mit ihrem Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble einen musikhistorisch bedeutenden Tag: das Akademiekonzert vom 22. Dezember 1808 im Theater an der Wien. Jahrelang hatte Beethoven um diesen Termin gekämpft. Wie muss man sich das vorstellen?

Thomas Hengelbrock: Beethoven ist der erste Komponist, der freischaffend gelebt hat. Mozart hat es versucht, Beethoven hat es geschafft. Doch auch als Hofkompositeur oder Hofkapellmeister hatte man es damals nicht immer leicht. Manchmal gefiel dem Herrscher die Musik nicht, oder er musste in den Krieg ziehen und die Kapelle wurde aufgelöst. Musiker lebten damals oft sehr prekär. Ich finde es regelrecht beschämend, wie viele Künstler und Konzertveranstalter heute an Beethoven verdienen, dem größten Komponisten der bürgerlichen Welt.

Unzählige Briefe schreibt Beethoven, um das Konzert zu verwirklichen. Er droht mit dem „Advokaten“, schimpft auf die „Vandalen der Kunst“ und ist „so verdrießlich“, dass er sich nichts wünsche, „als ein Bär zu seyn, um so oft ich meine Taze aufhöb, einen sogenanten großen … Esel zu Boden schlagen zu können“.

Hengelbrock: Es war ihm einfach unendlich wichtig. Man kann sich gar nicht vorstellen, mit welcher Bedingungslosigkeit er dafür gekämpft hat, sein Werk durchzusetzen. Und es ist wie so oft: Gerade große Künstler und Musiker müssen um ihre Kunst oft mehr kämpfen als die kleinen.

Endlich ergattert er einen Termin – ein Termin, der zwischen Advent und der Fastenzeit liegt.

Hengelbrock: Die Oper war in diesen sechs Wochen zu dieser Zeit verboten. Es gab natürlich auch Termine für spontane Aufführungen zu Ehren hochgestellter Persönlichkeiten, seien es Feiern oder Hochzeiten. Doch Termine für Akademiekonzerte mussten hart errungen werden und sie waren selten einem Komponisten vorbehalten. Insofern ist dieses Konzert allein mit Werken von Beethoven ungewöhnlich und für ihn wohl der wichtigste öffentliche Auftritt seines Lebens. Schließlich ging es um Uraufführung gewichtiger Werke.

Darunter sein 4. Klavierkonzert und die Sinfonien Nummer fünf und sechs. Das Konzert dauerte über vier Stunden.

Hengelbrock: Es war eindeutig zu lang. Mit seinem radikalen Verständnis von Kunst und seiner Persönlichkeit hat Beethoven die Leute auch überfordert.

Probleme gab es bereits mit der Zusammenstellung des Orchesters …

Hengelbrock: Die Aufführungsbedingungen waren sehr schwierig. Beethoven hatte große Mühe, ein Orchester zusammenzustellen. Heute hätte er auf viele durchsubventionierte Orchester zurückgreifen können. Damals aber wurden die Ensembles frei zusammengestellt. Viele Amateure waren darunter, Dilettanten aus adligen und auch groß bürgerlichen wohlhabenden Kreisen – wobei der Begriff des Dilettanten nicht die abwertende Bedeutung hatte wie heute. Es gab kurzfristig auch wieder viele Absagen. Auch an der Probendisposition haperte es, es gab zu wenig Proben, manche Stücke wurden nur einmal durchgespielt.

In Spohrs Autobiografie findet sich die schöne Geschichte, der zufolge Beethoven mit seinen fuchtelnden Armen die Kerzen vom Klavier fegt und dann einen Jungen, der eine der Kerzen hielt, umstößt, worauf „bacchanalisches Gelächter“ ausgebrochen sei …

Hengelbrock: Die Orchester-Musiker waren selbstbewusste Adlige und Großbürger. Sie wollten zeitweise nichts mehr zu tun haben mit diesem schwierigen Mann und jagten ihn sogar aus dem Saal. Von einem Nebenraum aus gab Beethoven dann Anweisungen an den Orchesterleiter von Seyfried, der versuchte zu vermitteln und immer wieder vor das Orchester trat und sagte: „Herr Beethoven wünscht das so und so.“ Und dennoch glaube ich, dass, als das Konzert dann endlich stattfand, sehr viele Leute da waren, die erkannten: Auch wenn alles nicht so perfekt und glatt abläuft: Er ist das Genie unserer Zeit.

Thomas Hengelbrock
Thomas Hengelbrock

Viele, die in Wien Rang und Namen hatten, waren da: Ignaz Moscheles, Johann Friedrich Reichardt, Prinz Lobkowitz, Louis Spohr … Zwei Gulden kostete die Konzertkarte – der Wochenlohn eines Arbeiters.

Hengelbrock: Menschen, die sich diese Subskriptionskonzerte leisten konnten, waren nicht arm. Sie kamen aus dem Adel oder den großbürgerlichen Kreisen. Insofern war dies natürlich kein öffentliches Konzert wie heute, sondern eher eine fast geschlossene Veranstaltung, im kleineren Kreis.

Ob Reich oder arm: In jedem Fall mussten sie alle sehr frieren …

Hengelbrock: Es wurde sehr viel berichtet über diesen denkwürdigen Abend. Und überall heißt es, dass es sehr kalt war. Das Konzert fand ja im Winter statt.

Und es rächte sich, dass man eine Chorfantasie nicht gründlich genug einstudiert hatte. Es hieß, einige der Instrumentalisten hatten in den Pausen falsch gezählt …

Hengelbrock: Ja. Die Einsätze wurden zum Teil verpatzt. Beethoven unterbrach das Konzert, und ließ das Stück noch mal spielen. Viele Musiker fühlten sich gekränkt.

Können Sie als Dirigent Beethovens Frustration verstehen?

Hengelbrock: Aber natürlich! Man will immer das Beste erreichen. Auch ich kenne sehr schwierige Situationen. Heute sucht man allerdings das Gespräch. Meistens jedenfalls (lacht). Doch man darf nicht vergessen, dass Beethoven zu jener Zeit fast taub war. Im Heiligenstädter Testament von 1802 hatte er bereits von seiner Einsamkeit und seiner Verzweiflung gesprochen und sogar Suizidgedanken gehegt. Er war schon ein sehr unglücklicher Mensch.

Dennoch hielt Beethoven an seiner musikalischen Botschaft fest.

Hengelbrock: Unbedingt. Beethoven wollte alle Menschen erreichen – nur nicht auf Kosten eines faulen Kompromisses. Er wollte ihnen die Dinge mitteilen, die er für wichtig hielt. Er war wie Sokra­tes, der sich auf den Marktplatz von Athen stellte und versuchte, die Menschen von den Äußerlichkeiten des Lebens auf das Wesentliche zu führen, mit Fragen, was für sie Gerechtigkeit, was Gesetze, was die Wahrheit, was der Sinn des Lebens bedeute.

Da hatte Beethoven wohl das Glück, ein Mann der Aufklärung zu sein, denn Sokrates wurde wegen Gottlosigkeit zum Tode verurteilt.

Hengelbrock: Ich habe mir neulich in Athen das Gefängnis angeschaut, wo Sokrates inhaftiert war. Es ist nicht weit weg vom historischen Zentrum in der Nähe des Philopappos-Hügels. Wenn man sich vorstellt, dass er hier vermutlich den Schierlingsbecher trinken musste … Dabei hätte man ihn noch befreien und ihm offiziell Asyl geben können. Aber er wollte das nicht. Er hat gesagt: „So wie ich gelebt habe, so sterbe ich.“ Das ist wirklich sehr beeindruckend.

Bei Ihrer Rekonstruktion des Akademiekonzertes wird es jedenfalls in der Hamburger Laeiszhalle bzw. im Konzerthaus Dortmund nicht kalt werden…

Hengelbrock: … das wissen wir noch nicht!

Und Sie werden auch keinen kleinen Jungen umstossen und auch nicht in ein anderes Zimmer gesperrt …

Hengelbrock: Das wissen wir auch nicht (lacht) … Ich bin ja leider auch nicht Beethoven! Ich werde aber dafür die Erfahrung machen, drei Stunden lang nur sein Werk zu spielen. Das ist etwas ganz Besonderes. Ich habe einmal in einem Konzert alle vier Brahms-Sinfonien aufgeführt. Ich war fast wie in Trance, noch nicht einmal erschöpft. Ich hätte sogar noch eine fünfte dirigiert, wenn er eine solche vollendet hätte.

Was bewundern Sie persönlich an der Musik von Beethoven?

Hengelbrock: Er war eine singuläre und extreme Gestalt. Es ist eines der größten Wunder der Kulturgeschichte, dass ein so radikaler und ein in seinem Kunstschaffen und seiner Persönlichkeit so wenig dem Kompromiss zugeneigter Mensch es tatsächlich geschafft hat, sich mit seinem Werk in der breiten Bevölkerung zu verankern. Ich finde es einfach phänomenal, dass ein so extremer Musiker nicht nur einen marginalen Randbezirk besetzt, sondern sich ins Zentrum, in das Herz unserer Kultur verankert hat.

Thomas Hengelbrock über Beethovens Akademie von 1808:

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