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Musiktheater-Kritik: Passionsspiele Oberammergau 2022

Passionspiel als Gesamtkunstwerk

(Oberammergau,14.5.2022) Christian Stückl entwickelt Schockdosierungen des erfahrenen Horrorregisseurs, der mit punktuellen Grausamkeiten mehr Drastik liefert als mit einem Blutbad. Und die Musik spielt eine entscheidende Rolle.

vonRoland H. Dippel,

Die Passionsspiele Oberammergau sind ganz großes Musiktheater. Über ein Viertel der zwei Teile mit Spieldauer von fast sechs Stunden bestehen aus oratorien- und kantatenhaften Musikszenen. Erst die jüngeren Zusätze haben pantomimische oder illustrierende Funktion. Über die Personalkapazitäten der Oberammergauer Passionen seit dem Pest-Gelübde 1634 wären viele professionelle Bühnen erfreut: Ein Orchester mit 57 Musikerinnen und Musikern, ein Chor mit 64 Stimmen und insgesamt 2000 Mitwirkende für die Massenszenen, Werkstätten, Einlass und Organisation. Schon Ende des 19. Jahrhunderts galten die Oberammergauer Passionsspiele und Richard Wagners Bayreuther Festspielhaus als spirituelle Erholungsorte und Purgatorien von den Zumutungen der modernen Zivilisation. Beide Theater kämpfen seit Ende des zweiten Weltkriegs um ideologische Selbstbesinnung und zeitgemäße Relevanz. 1976 gab Patrice Chéreau mit seinem „Jahrhundert-Ring“ der Wagner-Rezeption einen fundamentalen Anstoß, 1977 unternahm man in Oberammergau mit der Probe zum retro-barocken Rosner-Spiel einen Erneuerungsversuch. Seit 1990 betreiben Christian Stückl als Spielleiter, Stefan Hageneier mit Adaptionen des Bühnenhauses und Markus Zwink als Dirigent, Arrangeur sowie Komponist die Weiterentwicklung der Passion. Die erste Vorstellung des 42. Spieljahrs war am 14. Mai, bis 2. Oktober 2022 folgen insgesamt 102 Vorstellungen. Die oberbayerische Gemeinde ist weniger ein religiöser als ein philosophischer Veranstaltungsort, der seine nicht-professionellen Wurzeln äußerst professionell und vor allem authentisch vertritt.

Szenenbild aus den Passionsspielen Oberammergau 2022
Szenenbild aus den Passionsspielen Oberammergau 2022

Das Spielgelübde von einst gilt weiter

Zum Konzept der alle sechs Jahre stattfindenden Passionsspiele Erl gehört der Kompositionsauftrag zu einer jeweils neuen Musik. In Oberammergau, das wie Erl längst ein Festspielort für Oper und Konzert wurde, hält man dagegen an den Fäden zum ortseigenen Schaffen früherer Generationen fest. Der in Oberammergau geborene und in Oberföhring bei München verstorbene Rochus Dedler (1779-1822) komponierte eine umfangreiche Partitur zum noch für Stückl als Bearbeitungsgrundlage gültigen Spieltext des Ettaler Benediktinerpaters Othmar Weis (1811). Durch Erweiterungen des Textes wurden 1815 auch solche der Komposition nötig. Damals spielte man noch auf dem Friedhof. Während in der Säkularisation andere Passions- und Sakralspiele verboten wurden, konnte Oberammergau das Spielgelübde weiterhin ausführen, weil es sich an die im Königreich Bayern gültigen Verordnungen hielt: Außerbiblische Legenden-Motive und allegorische Figuren des Jesuitentheaters entfielen, die aus Evangelientexten übernommenen Szenen wurden ausgebaut. Die aus Oberammergau stammende Komponist Eugen Papst (1886-1956) bearbeitete Dedlers Musik 1950. Im Probejahr 1977 des Rosler-Spiels hatte man auch an eine behutsame Erneuerung der Musik gedacht. Anstelle der Musik Dedlers experimentierte man mit Sakralkompositionen von Franz Xaver Richter (1709-1789) in Adaptionen von Wolfgang Fortner.

Szenenbild aus den Passionsspielen Oberammergau 2022
Szenenbild aus den Passionsspielen Oberammergau 2022

Archaisierende Zeitlosigkeit, Stilisierung und Respekt vor der Tradition bei gleichzeitiger Diskursfähigkeit in den Grundrechten heutiger Zivilgesellschaften

Unter der Spielleitung des Münchner Volkstheater-Intendanten Christian Stückl und des zweiten Oberammergauer Spielleiters Abdullah Kenan Karaca geht es um archaisierende Zeitlosigkeit, Stilisierung und Respekt vor der Tradition bei gleichzeitiger Diskursfähigkeit in den Grundrechten heutiger Zivilgesellschaften: Das Auftrittsverbot für Frauen im Alter von über 35 Jahren wurde aufgehoben, alle antisemitischen Deutungsangebote und Verformungen mit fachkundiger Beratung entfernt. Ethische Verallgemeinerungen entzogen die letzte Lebenswoche Jesu weitgehend aus dem exegetischen Alleianspruch katholischer Dogmatik. Jesus wurde zu einem Menschen, der das aus politischer Strategie und persönlichen Verletzungen erwachsende Gewaltpotenzial der Massen auf sich zieht und der Welt so ein humanes Erlösungsangebot macht. Die androgyne Person, welche die drei Frauen am Grab Jesu empfängt, hat keine Flügel. Auch die von 2020 wegen der Pandemie verschobene Passion 2022 ist eine imponierende Gesamtleistung. Die Premieren-Mitwirkung entscheidet seit Generationen das Los, nicht das Können oder expressive Potenzial.

Szenenbild aus den Passionsspielen Oberammergau 2022
Szenenbild aus den Passionsspielen Oberammergau 2022

Jesus spricht Bayrisch

Christian Stückl kultiviert den Dialekt der einheimischen Spielgemeinschaft in feineren und manchmal körnigeren Färbungen als Stilmittel. Den Legenden-Zierrat sieht man in den Lüftlmalerien Franz Seraph Zwincks an den Oberammergauer Hausfassaden und in den berühmten Holzschnitzwerkstätten, aber nicht mehr auf der Bühne. Das Geschehen konzentriert sich auf die politischen und ethischen Konflikte zwischen Römern und Juden „im 18. Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius“. Jesus und neben ihm vor allem der Oberpriester Kaiphas haben auch für Berufsschauspieler beträchtliche Textmengen. Auf der riesigen Bühne sind die Massen zu maßvollen, feinen Abstufungen der Bewegung mit trotzdem realistisch anmutender Härte geführt. Die Folter- und Kreuzigungsszenen gewinnen Eindringlichkeit trotz verhältnismäßig geringer Dauer. Christian Stückl entwickelt Schockdosierungen des erfahrenen Horrorregisseurs, der mit punktuellen Grausamkeiten mehr Drastik liefert als mit einem Blutbad. Ein Stuhl, ein Halsstrick: Der Selbstmord des Judas hat in dem 4500 Sitze umfassenden Riesenraum die intime Nähe einer Studiobühne. Farbkontraste zwischen der politischen Realität in Galiläa und der traditionellen Überlieferung sind noch härter als 2010. Seit 200 Jahren gehören die „lebenden Bilder“ der Opferung Isaaks, von Daniel in der Löwengrube, des Mords von Kain an Abel und anderer Momente aus dem Alten Testament zu den künstlerisch wertvollen Attraktionen der Passionsspiele. Das sind Farbflächen als Zeichen für eine Vergangenheit, in der offenbar alles eindeutig war. Sie stehen als suggestive Gegen- und Vorbilder zur einfachen Lehre Jesu von Nächstenliebe und Toleranz. Diese lebenden Bilder waren meistens der Anlass zu Dedlers Originalkompositionen, die Markus Zwink mit Erweiterungen nach in bei Satztechniken Beethovens bis Wagner, Puccini und Rachmaninow aufgefundenen Mustern erweitert. Sinn macht das beim vom Volkgesungenen „Sch’ma Israel“. Neu eingefügt wurde 2022 eine von Zwink als Verständnisbrücke beabsichtigte Klammer zwischen dem alttestamentarischen Psalm 22 und der christlichen Rezeption der Kreuzigung. Die Passionsspiele dokumentieren ihre ästhetischen Überlegungen nicht. Verzichten würde Zwink am liebsten auf das ihm plakativ scheinende „Alleluja!“ Dedlers. Aber die schon im frühen 19. Jahrhundert von ersten Passionsspiel-Reisenden als zu schlicht verworfene Musik Dedlers hat ihre Meriten. Sie verdient in der Gruppe von ruraler Sakralmusik Anerkennung. Werke wie die von Rochus Dedler, des Böhmen Josef Jakub Ryba und des Müllner Peter aus Sachrang sind bedeutende Musikdokumente für das, was die Gläubigen auf dem Land hörten, während Mozart für den Salzburger Fürstbischof Colloredo, Beethoven und der aus einer ebensolchen ländlichen Tradition stammende Bayer Simon Mayr in Bergamo komponierten.

Szenenbild aus den Passionsspielen Oberammergau 2022
Szenenbild aus den Passionsspielen Oberammergau 2022

Edle Monumentalität

Dedlers Partitur ist in ihrer anrührenden Emotion und in ihrem intimen Ausdrucksgehalt eine wichtige Klammer zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Das zeigt man 2022 in einem Prolog, wenn sich eine neutral gekleidete Gruppe um das Kreuz schart wie zum Spielversprechen gegen die Pest vor fast 400 Jahren. Danach steht die von Raimund Lang 1930 entworfene Bühnenanlage für Hageneier als „dystopischer Tempel“, wo der Fall Jesus zu einem politisch-religiösem Konflikt von globaler Bedeutung anwächst. Zwinks musikalische Erweiterungen schaffen dazu eine Ebene von edler Monumentalität. Die Herztöne aber liefert Dedler, zumal wenn sie so gesungen werden wie von den Soli, den Ensembles und dem Orchester. Diese Musik gehört als ganz wichtiger Teil der Passionsspiele zu einem Gesamtkunstwerk, das sich nicht als solches zu erkennen geben will.

Passionsspiele Oberammergau 2022
Musik von Rochus Dedler/ Markus Zwink

Christian Stückl/ Abdullah Kenan Karaca (Spielleitung), Markus Zwink (Musikalische Leitung), Stefan Hageneier (Bühne), Chor und Orchester der Passionsspiele Oberammergau

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