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Lebenswege: Kent Nagano feiert 70. Geburtstag

„Stille meint niemals Tod, sondern Leben“

Kent Nagano über seine Kindheit in Kalifornien, sein Leben in Europa – und über existenzielle Erfahrungen in der Musik.

vonNinja Anderlohr-Hepp,

Ich hatte eine wunderbare Kindheit. Isoliert von der Außenwelt lebten wir in Morro Bay an der kalifornischen Küste. Meine Eltern waren Farmer, das Geld war immer ein bisschen knapp. In unserem Haus stand ein Fernseher für die ­Wettervorhersage, aber für die meisten Sender gab es keinen Empfang. Deshalb verbrachten wir viel Zeit draußen in den Feldern oder am Meer. Mein Dorf war wie ein Miniatur-Europa: Es gab Einwanderer aus Deutschland, Frankreich, Portugal, Italien, Großbritannien, Japan und China. Alle hofften, in den USA ein neues Leben zu beginnen, ganz so wie einst auch meine Großeltern. Wenn ich erzähle, dass ich aus Kalifornien stamme, denkt jeder an eine Kindheit mit Sonne, Meer und Surfen – aber unsere Region war vom Klima dem deutschen Norden sehr verwandt und eher kühl und wolkenverhangen. Deshalb liebe ich auch Hamburg: Die Luft hier riecht für mich nach meiner Kindheit, nach frischer, salziger See.

Kent Nagano mit seinen Eltern
Kent Nagano mit seinen Eltern

Das Dorfleben war nicht immer einfach: Wir Kinder hörten von den Städten, von neuen Filmen, Moden und Trends – und saßen selbst fest. Es gab viele Alkohol- und Drogenprobleme in unserem Dorf. Mein Lichtblick war unser Musiklehrer Wachtang Korisheli: Er stammte aus Tiflis, hatte in Moskau und München studiert und kam mit diesem europäisch geprägten Hintergrund zu uns Bauernkindern, auf die er eine unglaubliche Anziehungskraft ausübte. Immerzu re­krutierte er Kinder und Jugendliche für seine Orchester – manche kamen auf dem Pferd zur Orchesterprobe geritten! Ich liebte Musik. Jeden Tag konnte ich während meiner Klavierstunden im Geiste nach Europa reisen, die Sonaten von Mozart, Beethoven oder Haydn studieren und in andere Welten und Kulturen eintauchen. Die sozial teilweise beengende Realität meines Dorfes konnte mich nicht mehr ausbremsen und einsperren.

Kent Nagano in der Grundschule
Kent Nagano in der Grundschule

Ich habe drei Geschwister: einen Bruder und zwei Schwestern. Als sogenannte „Baby Boomer“ hatten wir die Wahl, ob wir die Familienfarm, die Bäckerei oder das Fischerboot übernehmen wollten – oder ob wir neue, eigene Wege einschlugen. Wir alle erhielten Musikunterricht, aber nur bei uns älteren Kinder waren meine Eltern streng und diszipliniert, wir mussten bis zu fünf Stunden üben. Mit meinen kleineren Geschwistern waren sie weniger rigoros: Wenn sie keine Lust hatten zu üben, dann hatten sie eben keine Lust. Deshalb sind meine Schwester und ich Musiker geworden, die anderen beiden aber arbeiten als Rechtsanwalt und im Bankenbereich. Trotz aller Disziplin habe auch ich als Jugendlicher rebelliert. Für die 68er-Revolution war ich etwas jung, und doch hat sie mich in meiner Lebenshaltung geprägt. In unserem Haus war Pop- und Rockmusik verboten; für meine Eltern war das Nonsens. Ich habe natürlich trotzdem diese Musik gehört, denn das gehörte einfach dazu – aber meine Interessen lagen in dieser Zeit dennoch anders.

Beim Surfen mit Bruder Neil
Beim Surfen mit Bruder Neil

Ich habe Musik studiert, parallel dazu auch Soziologie. Ein paar Semester habe ich mich zudem mit Jura beschäftigt, alle rechneten damit, dass ich ein seriöser Rechtsanwalt werden würde. Meine letzte Rebellion war dann, mich für die Musik zu entscheiden. Für meine Mutter brach eine Welt zusammen: Sie wollte, dass wir Kinder kulturnah aufwachsen – aber ich sollte doch kein Musiker werden!

Kent Nagano: „Dirigieren war und ist eine Form der musikalischen Kommunikation“

Kent Nagano 1990
Kent Nagano 1990

Für mich gab es nicht den einen Moment, bei dem ich wusste, dass ich Dirigent sein will. Das gehörte überhaupt nicht zu meinen Ambitionen. Eigentlich wollte ich Komponist werden – aber mir fehlte schlichtweg die Inspiration! Ich hatte keine Originalität. Auf der anderen Seite war ich schon immer Dirigent. Als Jugendlicher im Kinderchor unserer Kirche war ich der Pianist, und der Chorleiter sagte häufig einfach: „Kent, probe bitte mit dieser Gruppe, ich übernehme die andere!“ Für mich war das Leiten von anderen Musikern von Kindesbeinen an Normalität, so dass ich die Überhöhung des Dirigentenseins mit all dem Rampenlicht und dem Glamour nie ganz nachvollziehen konnte. Dirigieren war und ist eine Form der musikalischen Kommunikation. Vielleicht bin ich in diesem Sinne „alte Schule“: Denn im Mittelalter oder in der Renaissance gab es keine Dirigenten im modernen Verständnis, sondern einfach einen Musiker, der die anderen zusammenhielt.

Kent Nagano mit seinem Mentor Olivier Messiaen
Kent Nagano mit seinem Mentor Olivier Messiaen

Deshalb sehe ich mich auch nicht als „Übersetzer“ der Musik – wie kann ich wissen, was ein Komponist genau gedacht hat? So egozentrisch bin ich nicht. Eigentlich sind es doch eher meine Erlebnisse und meine Empfindungen, die eine Interpretation am Ende prägen. Natürlich versuche ich immer, mir eine Vorstellung davon zu machen, welche Klänge der Komponist im Kopf gehabt haben mag. Mein Mentor Olivier Messiaen, der mich nach Europa holte, hat mir das vorgelebt: Er war sehr gläubig, und sein Glaube war die Inspirationsquelle für seine Kunst. Doch er erwartete nicht, dass man gläubig sein musste, um seine Musik zu verstehen. Für ihn ging es um Interaktion und Inspiration. Musik ist eine moment­gebundene Erfahrung, und diese entsteht immer wieder neu, muss immer neu gedacht werden. Ist dies nicht der Fall, merken das Musiker und Publikum sehr schnell: Alles wird imitativ und unehrlich.

Hochzeit mit Mari Kodama 1991
Hochzeit mit Mari Kodama 1991

Das heißt aber nicht, dass ich Tradition ablehne: Sie ist unsere Identität, unsere Wurzel. Man darf nur nicht zulassen, dass sie zur Gewohnheit, zur Routine wird. So gibt es immer neue Möglichkeiten und Perspektiven, die aus dem Fortschritt der Forschung entstehen. Aber man muss sich Zeit nehmen. Man muss „recherchieren“ – immer wieder neue Aspekte suchen! Es liegt an uns, das Repertoire in einen relevanten Kontext zu stellen – insbesondere, was die Vermittlung an junge Menschen anbelangt. Es reicht eben nicht, diese Musik nur zu spielen. In unserer globalisierten Welt gibt es zu viele Angebote und Möglichkeiten, mit denen klassische Musik konkurrieren muss. Unter jedem Video werden gleich fünfzig weitere empfohlen – die Qualität spielt dabei keine Rolle, Algorithmen regeln unser Interesse. Als klassische Musiker müssen wir deshalb Verständnis schaffen und nicht nur Massenkonsum bedienen. Die Menschen und insbesondere viele Jugendliche verbringen einen Teil ihrer Zeit bereits in einer virtuellen Parallelwelt. Wenn wir die Technik sinnvoll nutzen würden, könnten wir sie zum Beispiel in eine virtuelle Oper einladen – das fände ich sehr aufregend! Die virtuelle Welt bleibt am Ende aber immer nur eine Interpretation der realen Welt.

Kent Nagano und Tochter Karin bei ihrem gemeinsamen Hobby
Kent Nagano und Tochter Karin bei ihrem gemeinsamen Hobby

„Je mehr ich lerne, desto mehr wird mir bewusst, wie wenig ich weiß“

Wir Künstler haben durch die Pandemie einen Teil unserer Routine eingebüßt. Das ist insofern gut, als dass Routine und Kreativität sich nicht allzu gut vertragen. Es ist unser Lebens­entwurf, jeden Tag krea­tiv und neu zu denken. Die Lockdown-Phasen haben uns dahingehend herausgefordert, uns alle aber auch aus unserem künstlerischen Trott gerissen. Auf der anderen Seite ist es eine sehr tragische Situation: Wir alle haben Freunde und Familienmitglieder lange nicht gesehen oder sogar verloren. Künstler konnten nicht auftreten, viele sind weiterhin in ihrer Existenz bedroht. Dass Kunst und Kultur in Krisen als erstes als ersetzbar gelten, ist keine neue Entwicklung. Schon Goethe schrieb Klagebriefe und fürchtete, dass im Zeitalter der industriellen Revolution das Theater abgeschafft würde und nur noch an Umsätze, nicht aber an die Kunst gedacht würde. Und doch haben Krisen stets großartige Werke hervorgebracht. Bang ist mir nicht, die Kultur und mit ihr die klassische Musik wird überleben. Sie hat schon jede Krise überstanden, nur niemals gänzlich unberührt. Kunst muss sich verändern. Eine Zäsur kann Veränderungen genauso bewirken wie die Stille. Letztendlich gibt aber doch die Tatsache Hoffnung, dass die Kultur bis heute überlebt hat – und das wird sie auch weiterhin.

Kent Nagano bei einer gemeinsamen Probe mit John Neumeier zu „Turangalîla“
Probe zu „Turangalîla“, Ballett von John Neumeier

Mit dem Älterwerden habe ich festgestellt: Je mehr ich lerne, desto mehr wird mir bewusst, wie wenig ich eigentlich weiß. Das gilt besonders für die Musik: Man kann unmöglich alle Musik jemals kennenlernen und hören. Deshalb sammle ich Inspiration in jedem Ton. So wunderbar und aufregend es ist, etwas das erste Mal zu erleben, so viel großartiger ist es, etwas zum zwanzigsten Mal zu machen und immer noch Neues dabei zu entdecken. Mit jeder weiteren Auseinandersetzung emanzipiert man sich, wird man freier, provokanter. Deshalb verläuft das Älterwerden bei Musikern auf zwei Ebenen in unterschiedlichen Richtungen: Die physische Gesundheit nimmt langsam ab, aber die mentale Kapazität wird überproportional größer.

... mit Mutter Ruth Okamoto
… mit Mutter Ruth Okamoto

Klassische Musik ist eine existenzielle Erfahrung in verschiedenen Dimensionen. Die Melodie, die wir hören, ist lange entstanden, bevor sie unser Ohr erreicht, sie kommt sozusagen aus der Vergangenheit. Eine bekannte Melodie hören wir im Kopf schon weiter, bevor sie überhaupt ausgespielt wurde: Sie führt in die Zukunft. Und das Interessante ist: Wenn eine solche Melodie durch einen falschen Ton gebrochen und damit unsere Erwartung nicht erfüllt wird, reagieren wir im Jetzt!

Kent Nagano beim Open Air auf dem Hamburger Rathausmarkt mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg
Kent Nagano beim Open Air auf dem Hamburger Rathausmarkt mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg

Mittlerweile suche ich aktiv nach Stille. Manchmal sitzen meine Frau und ich nur still nebeneinander, stundenlang, und genießen es, in Ruhe und konzentriert zu lesen. Stille meint niemals Tod, sondern Leben, Energie und Bedeutung. Genauso wie die Pausen in einer Partitur. Sie formen die Musik und haben in der Stille ihren Inhalt. Wenn mich konstant Lärm umgibt – im Alltag, draußen, aber auch innerlich – lenkt er mich ab. So finde ich auch meine Inspiration: In der Stille und in den einfachsten Dingen! Wir denken immer, wir wären so raffiniert, so gebildet und ernst. Aber das sind wir gar nicht. Ich selbst kann mich über die unsinnigsten Dinge amüsieren! Es macht Freude, wenn man versteht, dass Freiheit und Inspiration überall zu finden sind – eben auch in der Stille.

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