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Lebenswege Carolin Widmann

„Ich habe das Gefühl, ich selbst zu sein“

Dass Geigerin Carolin Widmann eine so bemerkenswerte Karriere als Solistin hinlegen sollte, war von ihr zunächst nicht geplant. Doch mit Fleiß und Liebe zu ihrem Instrument hat sie es bis ganz nach oben geschafft.

vonIrem Çatı,

Als Kind habe ich sehr gerne Tennis gespielt und bin viel Ski gefahren. Ich war immer ganz furchtlos, weil die Geige damals noch nicht die spätere Priorität hatte und ich nicht so besorgt um meine Hände war. Einmal hat mich sogar eine Fotografin während des Skiurlaubs angesprochen und gefragt, ob ich gerne modeln würde. Da war ich sechs Jahre alt und hatte natürlich das Wort „modeln“ noch nie gehört. Das war eine kurze, aber trotzdem ganz witzige Episode in meinem Leben.

Als junges Mädchen hat Carolin Widmann auch gemodelt
Als junges Mädchen hat Carolin Widmann auch gemodelt

Musik hat bei uns zu Hause immer eine große Rolle gespielt. Mein Vater war Hobby-Cellist und meine Mutter Hobby-Geigerin, mein Bruder hat Klavier gespielt. Ich habe zunächst mit der Blockflöte angefangen. Die hat mir geholfen, Noten und Rhythmen zu lernen. Mit sieben Jahren hatte ich an der Musikschule ­Unterhaching meinen ersten Geigenunterricht, den ich sehr ernstgenommen habe. Ich weiß auch noch, dass ich in die Poesie­alben meiner Freunde als Berufswunsch immer „Weltgeigerin“ oder „Köchin“ geschrieben habe.

Als ich neun Jahre alt war, wechselte ich zu Ali Tas¸ an die Münchner Sing- und Musikschule. Das war ein Wendepunkt für mich! Er war zwar wahnsinnig streng, hatte aber ein großes Herz. Er wusste, was nötig war, damit ich als Geigerin weiterkomme, und hat mich so motiviert, dass ich über meine „Schmerzgrenze“ hinaus geübt und es mit dreizehn Jahren an die Münchner Musikhochschule geschafft habe. Dafür bin ich ihm bis heute dankbar.

Geigenlehrer Ali Taş bereitete Carolin Widmann auf ihr Geigenstudium vor
Geigenlehrer Ali Taş bereitete Carolin Widmann auf ihr Geigenstudium vor

„Da war Waldi der Tamino aus der Zauberflöte“

Zu Hause haben wir viel Kammermusik gespielt und ich wollte unbedingt mit meiner Familie Haydns Klaviertrio proben. Mein großer Bruder Jörg und ich haben auch immer mit unseren Kuscheltieren Opern nachgespielt. Als Kind war das gar nichts Besonderes für uns. Da war der Waldi eben der Tamino aus der „Zauberflöte“. Und danach haben wir Fußball gespielt. Ich komme ja aus Unterhaching bei München, wo wir sehr ländlich gewohnt haben. Das war toll für uns Kinder, weil wir den ganzen Tag draußen waren und gespielt haben.

Mit Bruder Jörg hat Carolin Widmann Opern mit Kuscheltieren nachgespielt
Mit Bruder Jörg hat Carolin Widmann Opern mit Kuscheltieren nachgespielt

Ich bin also ganz normal und bodenständig aufgewachsen. Manchmal hatte ich aber das Gefühl, dass das ein Hindernis war. Als ich das erste Mal in der Berliner Philharmonie gespielt habe, dachte ich: „Was mache ich denn hier? Ich bin doch nur ein kleines Mädchen aus Unter­haching!“ Mein Bruder hat mir da sehr geholfen. Als wir einmal bei den Salzburger Festspielen aufgetreten sind und mir die Knie geschlottert haben, sagte er ganz ruhig: „Auf der ganzen Welt kochen die Leute nur mit Wasser.“ Und das fand ich so richtig!

Eine richtige Befreiung als Künstlerin habe ich als Studentin in Boston erlebt, als ich die Schule beendet hatte und endlich voll durchstarten konnte. Dort habe ich auch die schönste Zeit als Studentin erlebt. Meine Lehrerin Michèle ­Auclair war etwas ganz Besonderes! Eine Grande Dame vom Pariser Konservatorium, wie es sie heutzutage gar nicht mehr gibt. Sie war unglaublich streng. Einmal hatte sie auf der Toilette einen Wutausbruch und brüllte: „Weißt du eigentlich, dass du die Einzige bist, die so begabt ist, dass sie alles erreichen kann?“ Da dachte ich: Wenn ich das bloß früher gewusst hätte, dann kann ich das alles auch in Kauf nehmen.

Mit Lehrerin Michèle Auclair hat Carolin Widmann sogar ihren Geburtstag gefeiert
Mit Lehrerin Michèle Auclair hat Carolin Widmann sogar ihren Geburtstag gefeiert

Ein Schlüsselerlebnis in meiner jungen Karriere war, als ich den Belmont-Preis der Forberg-Schneider-Stiftung gewonnen habe. Da gab es eine kleine dpa-Meldung dazu – als ob das einen Unterschied machen würde, aber plötzlich haben so viele Menschen mitbekommen, dass ich diesen Preis gewonnen habe. Und die Wahrnehmung der Leute hat sich geändert, denn ich habe ja nicht über Nacht besser Geige gespielt. Plötzlich hatte ich einen Agenten und viele, viele Einladungen.

Der Gewinn des Belmont-Preises war der Beginn einer internationalen Karriere
Der Gewinn des Belmont-Preises war der Beginn einer internationalen Karriere

Ich habe das große Glück, meinen Erfolg nicht mehr an irgendwelchen Äußerlichkeiten festzumachen, mit welchem Orchester oder Dirigenten ich spiele oder in welchem Saal. Heute orientiere ich mich nach künstlerischen Gesichts­punkten. Dennoch ruhe ich mich nicht aus. Aber ich merke, dass ich das Gefühl habe, ich selbst zu sein. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis ich genug Selbstvertrauen hatte, mir einen Fehler auf der Bühne auch mal zu vergeben. Und ich merke: Je mehr man sich von dem Druck befreit, desto mehr fliegt einem alles zu. Ein Paradoxon!

„Wenn man so viele Rollen erfüllen muss, ist selbst das nicht immer genug“

Mittlerweile bin ich auch Dozentin und Mutter und merke, dass sich die Prioritäten verschieben. Ich gebe zwar immer hundert Prozent, aber wenn man so viele Rollen erfüllen muss, ist selbst das nicht immer genug. Ich versuche, meine Rollen sehr gewissenhaft zu erfüllen, und wenn ich mal versage, dann deshalb, weil ich es so sehr versucht habe. Das muss man mir dann vergeben.

Heute ist Carolin Widmann selbst Dozentin
Heute ist Carolin Widmann selbst Dozentin

Zwischen 2012 und 2015 war ich Leiterin der Sommerlichen Musiktage Hitzacker. Das war ganz spannend, weil ich in die Rolle der Veranstalterin geschlüpft bin und ein Gesamtkonzept kreieren konnte. Allerdings musste ich diese Aufgabe nach vier Jahren abgeben, weil ich doch gemerkt habe, dass es mir zu viel wurde mit meinen anderen Rollen.

Was ich während meiner Karriere gemerkt habe und auch bei meinen Studenten sehe, ist, dass wir Musiker sehr in dieser Wettbewerbssituation verankert sind und genau das uns daran hindert, unser volles Potenzial auszuschöpfen. Für mich selbst war das auch ein Lernprozess, den ich nur dank eines Mentaltrainers überwinden konnte. Als Kind habe ich die Bühne geliebt, später aber habe ich angefangen, mich selbst unter Druck zu setzen. Daran muss man arbeiten, und das versuche ich auch mit meinen Studenten.

Was zählt, ist der Moment auf der Bühne, die Analyse kommt erst danach. Ich schreibe nach jedem Konzert eine solche Analyse und stecke mir vor jedem Auftritt ein realistisches Ziel. Denn im Gegensatz zu Hochleistungssportlern stehen wir Musiker nach unserem Abschluss alleine da. Deswegen möchte ich meinen Studenten die Fähigkeit und Mittel mitgeben, mit Lampenfieber umzugehen und richtig zu üben. Ich möchte, dass sie nach dem Studium selbstständig und lebensfähig sind, auch wenn sie am Ende keine Geiger werden.

Mit den Symphonikern Hamburg in der Laeiszhalle
Mit den Symphonikern Hamburg in der Laeiszhalle

Heute bin ich stolz, dass ich es soweit geschafft habe. Als Geigerin habe ich mittlerweile an die 120 Violinkonzerte mit Orchester gespielt. Über dieses breite Repertoire bin ich sehr froh. Ich weiß, dass ich oft als Spezialistin für zeitgenössische Musik gesehen werde, aber ich mag es nicht, in eine Repertoire-Schublade gesteckt zu werden.

Was mir auch sehr wichtig ist und meiner Meinung viel zu selten passiert, ist die Fusion von Musik mit Bildender Kunst, Theater und Tanz. Ich habe mich schon immer sehr von der Malerei beeinflussen lassen, sie hat mich in meinem Musizieren sehr geprägt. Die Augen für den Tanz hat mir Sasha Waltz geöffnet, mit der ich gemeinsame Projekte verwirklicht habe. Da stellte sich am Anfang die Frage, welche Möglichkeiten ich als Geigerin habe, um mich zu bewegen, und Sasha hatte die geniale Idee, mich von einem Tänzer tragen zu lassen. Das ist einfach, hat aber einen großen Effekt. Ich glaube, wir Musiker müssen dafür insgesamt offener werden.

„Wir müssen dafür kämpfen, dass wir unseren Platz und unsere Relevanz wiederfinden“

Für die Zukunft habe ich das ungute Gefühl, dass wir als Musiker wirklich kämpfen müssen, auch wenn die Corona-Pandemie mal vorbei sein sollte. Da müssen wir und das Publikum zeigen, wie wichtig Kunst und Kultur sind. Wir müssen dafür kämpfen, dass wir unseren Platz und unsere Relevanz wiederfinden, und da möchte ich zur Stelle sein. Die Pandemie hat mir gezeigt, wie wichtig mir mein Beruf ist, den ich mehr als Berufung sehe. Über den Druck, auf der Bühne zu stehen, kann ich heute nur lachen, weil ich mich so sehr danach sehne, wieder vor Publikum spielen zu dürfen!

Neben ihrer Rolle als Geigerin ist Carolin Widmann auch Mutter zweier Kinder
Neben ihrer Rolle als Geigerin ist Carolin Widmann auch Mutter zweier Kinder

Der Prozess der Selbstfindung, den ich vorhin schon beschrieben hatte, ist auch noch lange nicht abgeschlossen. Der zieht sich unendlich lang hin, bis man dazu stehen kann, nur das zu sagen, wovon man überzeugt ist, und nicht Dinge zu äußern, nur um jemandem zu gefallen. Gleiches gilt für die Musik. Ich möchte alles Schnörke­lige und Anbiedernde weglassen und versuchen, das zu machen, was mir entspricht. Nach dieser Purifikation sehne ich mich.

Ich wünsche mir, dass ich noch viele Jahre auf der Bühne stehen darf und entweder Stücke, die ich schon kenne und die mir wertvoll sind, weiter vertiefen oder neue Sachen kennenlernen kann. Die Lebensspanne, in der man intellektuell etwas versteht und körperlich noch fit genug ist, ist nur kurz. Für mich sind es die nächsten Jahre, in denen beides zusammenkommt, und darauf freue ich mich unendlich.

Als Privatperson wünsche ich mir, dass ich weiterhin diese wunderbaren Leute um mich haben darf, die mich schon so lange begleiten: meine Familie natürlich und Kollegen wie Esa-Pekka Salonen, Philippe Herreweghe oder Christoph von Dohnányi. Und ich wünsche mir, dass wir gesund bleiben.

Katze Nike wurde nach Nike Wagner benannt
Katze Nike wurde nach Nike Wagner benannt

Ich bin sehr daran interessiert, an Projekten wie dem mit ­Sasha Waltz weiterzuarbeiten und auch in Zukunft die Musik mit anderen Kunstformen zusammenzubringen. Wichtig dabei ist, dass das mit einem hohen künstlerischen Anspruch entsteht. Bei solchen Projekten besteht die Gefahr, dass es misslingt, wenn es nicht wirklich gut gemacht ist.

Seit Kurzem haben wir ein neues Familienmitglied, unseren Hund Neo, den wir nach dem Maler Neo Rauch benannt haben. Wir haben uns da dem Diktat unserer Kinder gebeugt, die unbedingt einen Hund haben wollten, obwohl wir schon eine Katze haben. Die heißt übrigens Nike, wie Nike Wagner! Es hat sich herausgestellt, dass auch sie eine Katzenliebhaberin ist und sie hat sich unglaublich darüber gefreut, dass wir sie nach ihr benannt haben.

Durch den Hund komme ich mehrmals am Tag raus. Bis Juli bin ich noch regelmäßig Joggen gegangen, aber jetzt denke ich, dass ich meine Selbstdisziplin in Pandemie-Zeiten auch mal hintan stelle, und lebe einfach Tag für Tag. Vielleicht kommt das wieder, wenn die Normalität in unser Leben zurück­gekehrt ist. Ich koche und backe auch unglaublich gerne, obwohl es nicht einfach ist, wenn ich mein Herzblut in dieses Essen gesteckt habe und meinen Kindern es nicht schmeckt!

Album Cover für Saunders: Still (aus: musica viva #35)

Saunders: Still (aus: musica viva #35)

Carolin Widmann (Violine) Symphonieorchester des BR Ilan Volkov (Leitung) BRKlassik

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