Glauben wir in diesen Zeiten eigentlich noch an Wunder? Oder beherrschen die Fieberkurven der fallenden und dann doch wieder steigenden Fallzahlen der Infizierten unser Denken und Fühlen bereits total? Just aus dem Land, wo von jeher die Zitronen blühen, in diesem Frühjahr allerdings die Covid-Pandemie nach Europa schwappte, zuerst zuschlug und ein Spur der Verwüstung hinterließ, hier also geschieht es seit wenigen Tagen: das Wunder der Wiedergeburt der europäischen Hochkultur. Noch bis zum 30. Juli findet das Ravenna Festival statt – die Jubiläumsausgabe der 1990 ins Leben gerufenen Festspiele wurde coronakonform umgestrickt, damit freilich gerade nicht zum kammermusikalischen Kompromisskompott eingekocht. Denn das Team um Präsidentin Cristina Muti ließ sich gerade nicht entmutigen. Es bot der Angst die Stirn, es hielt den bestenfalls klein denkenden Bedenkenträgern der Bürokratie ihre verantwortungsbewusste Vision entgegen.
Wiedergeburt der europäischen Hochkultur
Der Status des größten italienischen Weltstars der Klassik mag bei deren Durchsetzung enorm geholfen haben. Denn hier in der Heimatstadt seiner Frau verbrachte Riccardo Muti die Monate des Lockdowns, hier studierte Beethovens Partituren aufs Neue, und hier machte er mit seinem Mut möglich, dass aus dem Land der Krise das Land der Hoffnung wird. Für Musiker auf der ganzen Welt, die wieder wollen und seit Monaten nicht dürfen. Für ein Publikum, das nach der Aura der Live-Musik giert.
Der Löwe von Venedig begrüßt die Besucher der Burgruine
Den Eröffnungsabend ganz mit Mozart leitete Maestro Muti höchstpersönlich mit dem in der Region angesiedelten Orchestra Giovanile Luigi Cherubini. Ein Ereignis von grandioser Symbolkraft, wie die Anwesenheit der nationalen und regionalen Politprominenz bestätigte. Jetzt hingegen lockte das erste internationale Spitzenorchester in die Rocca Brancaleone – eine stimmungsstarke Open Air-Spielstätte, in der sonst über 2000 Menschen Platz fanden, jetzt aber, die Abstandsregeln streng wahrend, nur weniger als 300. Die Venezianer bauten die Burg einst im 15. Jahrhundert, nicht nur um Ravenna vor Eindringlingen zu verteidigen, sondern im besonderen, um als Besatzer der Stadt die rebellischen Ravennesen unter ihrer Fuchtel zu haben. Die Rocca war das Werk des Dogen Francesco Foscari. Das Wappentier der stolzen Lagunenstadt, der Löwe von Venedig, begrüßt die Besucher der Burgruine bis heute.
Wenn die lang gehegte Sehnsucht nach der Magie des erfüllten Augenblicks erfüllt wird
Das Budapest Festival Orchestra unter Iván Fischer war nun mit einem jener Programme zu Gast beim Ravenna Festival, die belegen, dass auch hochfein Anspruchsvolles von Haydn, Britten und Wagner einer italienischen Sommernacht ihren ganzen Zauber verleihen kann. Die lang gehegte Sehnsucht nach der Magie des erfüllten Augenblicks im einmaligen Erleben von Musik – hier wurde sie an diesem Abend glückvoll gestillt. Und hier wird sie Abend für Abend weiter gestillt werden.
Wagner mal ganz zärtlich, utopisch, feinsinnig – als Feier des Lebens
Richard Wagners „Siegfried-Idyll“ als Auftakt ist als solches ein Zeichen für diesen besonderen Moment des Neustarts. Denn es ist Geburtsmusik, als intimes Privatissimum seiner Frau Cosima zugeeignet, die ihm gerade den Stammhalter Siegfried schenkte. Die Budapester gehen ihren Wagner zärtlich, utopisch, feinsinnig an. Sie kosten genüsslich aus, was der Meister damals in Luzern an behutsamem Blühen in die verliebten Noten geschrieben hat. Der weiche Zauberklang der ungarischen Wunderharfe, wie Wagner die Budapester fraglos genannt hätte, kommt im Holzbläser-Samt so sehr zum Ausdruck wie im honigdunklen Streicher-Sehnen. Das Orchester spielt, wie ein alter Tokajer im Idealfall schmecken soll. Und Wagner wird zum ganz anderen Ereignis – als der Anti-Tragiker, der das Leben feiert. Welch eine Festspiel-Botschaft im vom Virus verheerten Stiefelstaat!
Anna Prohaska transzendiert Brittens Beschwörungsformeln
Das nächste Wunder folgt zugleich. Aus Berlin nach Ravenna gekommen, ist Anna Prohaska. Sie singt Benjamin Brittens „Les illuminations“, jenes berückende Tongedicht auf die verzückten Worte des Arthur Rimbaud. La Prohaska macht in ihrer herrlich mit den biegsam musizierten Orchestersoli verzahnten Anverwandlung jede Nuance des französischen Textes imaginativ spürbar. Sie liebkost die Worte, spielt mit ihnen als ungemein kluge, edle Gestalterin, die Brittens Beschwörungsformeln mit den Budapestern transformiert, gar transzendiert – in ein Gebet an eine Sommernacht.
War Papa Haydn der große Bruder Rossinis?
Joseph Haydn und seine 104. Sinfonie, die „Londoner“, gehört so sehr zur DNA-Musik des Budapest Festival Orchestra wie jene von Bartók, von dem es einen rumänischen Tanz als Zugabe im Gepäck hat. Von Fischer grandios inszeniert wirkt der Übergang von der noch gänzlich verzweiflungsvollen langsamen Einleitung in den D-Dur-Durchbruch des Eingangssatzes. Diese Giocoso-Verschmitztheit, diese lukullischen Soli der Querflöte, diese gewitzten Generalpausen im Scherzo und immer wieder dieses gestische Phrasieren in vollendeter Inspiriertheit, das dem italienischen Publikum Papa Haydn als großen Bruder Rossinis erscheinen lässt: Das alles sind die vielen kleinen Wunder dieses großen Abends und dieses großen Festivals, das der Pandemie zu trotzen weiß. In den nächsten Tagen und Wochen kehren Muti und Gergiev zum Ravenna Festival zurück. Preziosen der Alten Musik, Beethoven-Programme, Uraufführungen ergänzen das nie beliebige Programm der Jubiläumsausgabe. Wer immer noch nicht nach Italien reisen will, kann viele Konzerte über Streamings verfolgen, die über die Festival-Homepage kostenlos zu genießen sind.