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Dirigent Daniel Harding im Interview

„Bruckner ist kein Schokoriegel“

Der Dirigent Daniel Harding über sein Tokio-Konzert am Tag des Erdbebens, leidenschaftliche Zuhörer und einen Anfängerfehler

vonJakob Buhre,

Mit 20 Jahren wurde Daniel Harding Assistent von Claudio Abbado bei den Berliner Philharmonikern, heute, mit 35, dirigiert der Brite die großen Opern- und Sinfonieorchester in aller Welt. In der Laeiszhalle gastiert er mit dem international gefeierten Mahler Chamber Orchestra, dessen Musikdirektor er seit 2003 ist.

Herr Harding, Sie waren in Japan, als dort im März die Erde bebte. Wie haben Sie den Tag des Unglücks erlebt?

Daniel Harding: Ich hatte an dem Abend in Tokio ein Konzert mit dem New Japan Philharmonic Orchestra. Als das Beben um 14.46 Uhr einsetzte, saß ich gerade im Auto auf dem Weg zur Generalprobe. Für mich fühlte es sich an wie in einem Flugzeug in Turbulenzen, nur dass man solch eine Erschütterung auf dem Erdboden nicht erwartet. Und ringsherum fingen die Häuser an zu tanzen. Beängstigend war für mich, zu sehen, wie das Beben die Menschen verstörte, sogar die erdbebenerfahrenen Japaner.

Wie ging der Tag für Sie weiter?

Daniel Harding: Als ich bei der Konzerthalle ankam, musste dort erst geprüft werden, ob das Gebäude sicher ist und wir auf die Bühne können. In der Garderobe haben wir dann im Fernsehen die Bilder aus Sendai gesehen, diese unaufhaltbare Wucht des Tsunami. Es gab teilweise Live-Bilder davon, wie Menschen von den Fluten weggeschwemmt wurden, das war das Schrecklichste, was ich je gesehen habe.

Doch dann haben Sie das Konzert wie geplant dirigiert?

Daniel Harding: Wir wussten zuerst nicht, ob überhaupt irgendjemand kommt, Tokio war ja komplett blockiert, es fuhr kein Zug und keine U-Bahn. 15 Minuten vor Konzertbeginn war auch noch niemand da, doch dann erschienen nach und nach einige Zuhörer. Ein älterer Herr war sogar vier Stunden durch die Stadt gelaufen, um das Konzert zu hören. Am Ende waren es 50 Besucher, von 1.800 verkauften Karten. Aber die Konzentration und die Atmosphäre im Raum, als wir Mahlers Fünfte aufgeführt haben, war unglaublich.

Gab es auch Überlegungen, das Konzert abzusagen?

Daniel Harding: Nein. Und ich finde auch: Es ist nie, in keinem Moment falsch, Musik zu machen. Dies war gerade einer dieser Momente, wo Musik wirklich helfen kann. Mahlers Fünfte ist eine große Meditation über Leben und Tod, über all die wichtigen Dinge, die es für uns Menschen gibt.

Wie war Ihr Abschied aus Japan?

Daniel Harding: Das war ein merkwürdiges Gefühl. Ich dirigiere seit 15 Jahren regelmäßig in Japan, ich liebe die Leute, die Kultur, und immer wenn ich aus Japan abreise, vermisse ich es sofort. Diesmal, nachdem ich zusammen mit den Japanern dieses Unglück erlebt hatte, hatte ich fast das Gefühl, als würde ich die Leute im Stich lassen.

Wann fliegen Sie wieder hin?

Daniel Harding: Wir fliegen im Juni mit dem Mahler Chamber Orchestra nach Tokio, und ich werde auch wieder das New Japan Philharmonic Orchestra dirigieren. Das Letzte, was die Japaner jetzt brauchen, ist, dass wir dem Land aus Angst den Rücken kehren. Wir müssen Ihnen in dieser Situation beistehen. Die Japaner mögen unsere Musik, sie sind die wunderbarsten Gastgeber, jeder Musiker liebt es, dort hinzufahren.

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum in Japan diese Leidenschaft so groß ist?

Daniel Harding: Ich hasse es, zu pauschalisieren, aber ich glaube, ihnen ist mehr als uns in Europa bewusst, dass viele Dinge im Leben einigen Aufwand wert sind. Vielleicht sind wir in Europa in diesem Punkt etwas faul und wollen vor allem Dinge, die uns schnell befriedigen. In Japan dagegen kann man beobachten, wie viel Geduld und Konzentration die Menschen bereit sind, aufzubringen, um etwas zu verstehen.

Du kannst nicht Krieg und Frieden in zweieinhalb Minuten verdauen und dabei all die Vitamine in dich aufnehmen. Es benötigt enorme Konzentration und Zeit, Tolstoi zu lesen oder Hamlet oder all das Leben aus einer Bruckner-Sinfonie herauszupressen. Das kann man nicht konsumieren wie einen Schokoriegel. Ich habe nichts gegen Popkultur, ein guter Popsong kann dir eine Sache in drei Minuten unglaublich direkt vermitteln und dich berühren. Aber die Perspektive, die du durch großartige Kunst jeder Art bekommst – das braucht länger, das erfordert viel mehr persönliche Hingabe. Und es ist eine Schande, wenn wir das Interesse an Dingen verlieren, die das von uns fordern.

Stimmt die Geschichte, dass Sie mit 17 Jahren Simon Rattle die Aufnahme eines Schönberg-Stücks geschickt haben und dass er sie daraufhin als Assistent engagiert hat?

Daniel Harding: Ja, fast. Es hat nicht erst mit der Aufnahme angefangen – und ich war erst 15. Wir waren eine Gruppe von Schülern am Musikgymnasium in Manchester, und in unserer Freizeit haben wir uns Pierrot Lunaire erarbeitet. Ich habe dann unserem Kompositionslehrer vorgeschlagen, Simon Rattle zu fragen, ob er uns eine Stunde gibt. Denn die Lehrer an unserer Schule hatten alle abgewunken, sie meinten, das sei zu schwierig. Also schrieb ihm unser Kompositionslehrer einen Brief: „Sehr geehrter Herr Rattle, wir haben hier Schüler im Alter von 15 und 16 Jahren, sie sind neugierig, haben einen großen musikalischen Appetit, und sie brauchen jemanden, der ihnen sagt, dass sie mit ihrer Neugier Recht haben und dass es keine schlechte Sache ist, mit 15 Schönberg zu spielen.“ Rattle sagte Ja, weshalb wir dann diese Aufnahme anfertigten.

Und Sie wurden sofort sein Assistent?

Daniel Harding: Nein. Als wir bei ihm waren, sagte er mir, dass er in drei Wochen in Birmingham Pierrot Lunaire aufführen würde, und er fragte mich, ob ich nicht zu den Proben kommen wolle. Das war schon gutes Timing. (lacht) Als ich dann kam, hat er mich vor sein Orchester gestellt und dirigieren lassen. Als nächstes bat er mich, ihm bei einer Aufnahme von Henzes siebter Sinfonie zu helfen, und danach engagierte er mich.

Als Sie 1997 Ihren ersten Posten als Chefdirigent in Trondheim erhielten, waren Sie gerade 22 Jahre alt. Mussten Sie sich da den Respekt der Musiker besonders hart erarbeiten?

Daniel Harding: Ich glaube niemand bekommt automatisch Respekt, in keinem Alter. Gut, vielleicht mit 80. (lacht) Als junger Dirigent darfst du nicht vortäuschen, Dinge zu beherrschen, die du nicht kannst, wo du noch keine Erfahrungen hast. Du musst den Musikern aber zeigen, dass du es mit der Sache ernst meinst, das respektieren die Leute.

Wie wichtig ist denn Erfahrung?

Daniel Harding: Es gibt absolut keinen Ersatz dafür, nichts, womit sich dieser Prozess verkürzen lässt, da hilft nur, möglichst jung anzufangen. Ich bin heute 35 und richtig froh, dass ich schon fast 20 Jahre Erfahrung hinter mir habe.

Wie viele der Jahre waren ein Ausprobieren?

Daniel Harding: 20. Ich würde auch sagen, dass jeder, der behauptet, dass dieser Prozess nicht bis in deine späten 50er anhält, lügt – oder sich seiner selbst in katastrophalem Ausmaß unbewusst ist.

Wie hat sich Ihr Dirigieren in den Jahren verändert?

Daniel Harding: Ich bin geduldiger als früher. Man lernt mit der Zeit, die Dinge geschehen zu lassen. Am Anfang hat man noch diesen Wunsch, alles zu kontrollieren. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Aufführung von BrahmsViolinkonzert. Im zweiten Satz war ich so sehr beschäftigt mit dem Solisten, den Passagen in den Bläsern, mit der Phrasierung usw. – hätten Sie mich dabei beobachtet, Sie wären niemals auf die Idee kommen, dass ich gerade ein ruhiges, wunderbares Stück Musik dirigiere.

Ist das ein typischer Anfängerfehler?

Daniel Harding: Ja. Du musst herausfinden, wie du weniger und trotzdem alles machst. Das ist ein langer Prozess.

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